Europa in die Tasche stecken

Christian H. Moser

by Christian H. Moser

Story

Mit diesem Slogan wurde 1989 die große Bahn-Europa-Fahrkarte „Interrail“ beworben. Interrail war eine Art 68er-Statussymbol der Neunzigerjahre. Mit Rucksack und Schlafsack zog man los. Die Frage des Wohin wurde mit „Ziel unbekannt“ erwidert. Heute da und morgen dort, hieß das Motto. Jeder Tag an einem anderen Ort, lautete die Prämisse. Dabei führte man Smalltalk mit Gleichgesinnten aus allen Teilen der Welt, die nach wenigen Stunden auf Nimmerwiedersehen für immer verschwanden. Interrail stand für Freiheit, Abenteuer und die große weite Welt entdecken. Ein Ticket in der Tasche und Europa lag einem zu Füßen.

Der Eiserne Vorhang trennte Europa damals noch in zwei Hälften. So konnten von den zweiundzwanzig Reiseländern achtzehn im westlichen Teil Europas und mit Marokko sogar ein afrikanisches Land bereist werden. Auf der anderen Seite gehörten Ungarn, Rumänien und das noch geeinte Jugoslawien zu den Reiseländern. Vom Polarkreis bis nach Casablanca oder von Loch Ness bis an den Bosporus konnte man in 30 Tagen Europa zum Preis von 3.500 Schilling (umgerechnet 254 Euro) kennenlernen.

Auf meinen beiden Interrail-Reisen 1989 und 1991 erfüllte ich mir diesen Lebenstraum. Zusammen mit einem Schulkollegen bereiste ich schlussendlich vierzehn Länder. Jeweils 9.000 Kilometer mit Bahn und Fähren zählte der Fahrtenschreiber. Die idyllische Erwartungshaltung, mit der Hoffnung auf Freiheit und Abenteuer, wurde gleich abgelöst von der harten Realität. Und dies kann man durchaus wörtlich nehmen. Bei den vielen Übernachtungen im Schlafsack auf den Bahnhöfen in vielen Städten Europas auf einer nur einen Zentimeter dicken Gummimatte bekommt das Wort „hart“ eine besondere Bedeutung. Eine gewisse Nervenstärke und Gelassenheit sind zudem gefragt. Es war die günstigste Schlafmöglichkeit. Heute würde ich damit aber nicht mehr zurechtkommen.

Unvorstellbar war die finanzielle Logistik dieser Reisen. Unglaubliche sechzehn Währungen – allein auf der ersten Reise zwölf – mussten wir handeln. Bankomatkarten kannte man fast gar nicht. Wenn man sie benutzen durfte, so nur mit großer Spesenbelastung. Eurocheques, eine Art garantierte internationale Schecks, wurden auch nicht überall anerkannt.

Nur Barzahlung war die sicherste Zahlungsmodalität. Zu den wichtigsten Währungen zählten die deutsche Mark und der amerikanische Dollar. Sie wurden fast überall sehr gerne genommen und akzeptiert. Von den Wechselstuben könnte man viele Geschichten, ja fast Horrorgeschichten, erzählen. Stundenlanges Anstehen in nicht mehr überblickbaren Menschenschlangen mit über hundert Leuten war da noch harmlos. In aussichtsloser und hoffnungsloser Lage schluckte man beinahe jeden Wechselkurs, um einfach einige „Kröten“ in der im Land gültigen Währung zu besitzen. Bei Temperaturen über 40 Grad Celsius lernte man erst das Gefühl kennen, jeden Preis für eine Flasche Wasser zu zahlen. Eine neue Erfahrung für uns, wenn man aus einem Land kommt mit Wasserüberfluss.

© Christian H. Moser 2021-02-10