So also schmeckt frische Luft. Kaspar Hoser nahm einen zweiten Zug, konnte gar nicht genug davon bekommen. Er hatte von klein auf rötliche und leicht abstehende Ohren, doch das hĂ€ufige Maskentragen hat sein optisches Charakteristikum zusĂ€tzlich akzentuiert. Seit langer Zeit wieder ohne Maske ins Freie zu gehen, das ist schon ein einprĂ€gsames Ereignis. Ob dieses Utensil noch weitere VerĂ€nderungen zur Folge hat, ist mangels Vergleichsmöglichkeit nicht mit Sicherheit zu sagen. Man weiĂ ja nicht, wie sich seine GesichtszĂŒge sonst entwickelt hĂ€tten. Zugegeben, seine Nase ist etwas platt und seine Wangen wirken eingedrĂŒckt, aber vielleicht war Kaspar von der Genetik so vorgesehen.
In letzter Zeit verstĂ€rkten sich global die atmosphĂ€rischen Störungen, allerdings weder durch das Magnetfeld der Erde noch durch KlimaĂ€nderung bedingt, die Ursachen waren ganz allein menschlicher Natur. Auch Hosers blieben davon nicht verschont. Einer solchen Dissonanz hat Kaspar seine Narbe auf der linken Wange zu verdanken. Er war unglĂŒcklich in Vater Bens flache Hand gelaufen, Ben ist RechtshĂ€nder. Störungsursache bei Hosers waren meist Bandbreiten- oder Geldprobleme, die stark ineinander verwoben waren.
FĂŒr die IT-Sache hatte der Senior rasch eine Lösung parat. Kaspar musste des Familienfriedens wegen auf seine Computer-Zeiten verzichten, Ende des Homeschoolings, Mutter Vera ĂŒbernahm stattdessen die pĂ€dagogischen Aufgaben. Ja, in schwierigen Phasen muss jeder EinschrĂ€nkungen hinnehmen und sich einbringen. Vater verzichtete notgedrungen, weil gesetzlich verordnet, auf seine Arbeitstage im BĂŒro, Mutter versuchte bisher ergebnislos, ihre vielen Amazon-Lieferungen auf Notwendigkeit hin zu prĂŒfen. Es scheint Gesetz zu sein, dass in einer 60qm-Wohnung die atmosphĂ€rischen Störungen besonders groĂ sind.
Bei dieser Vielfalt an Herausforderungen blieb fĂŒr die FĂŒhrung des Haushalts natĂŒrlich weniger Zeit, weshalb Hosers oft und gerne die Lieferangebote umliegender Burger-Ketten nutzten. Hauptsache gesund, meinte Ben stets, wenn er die Homeoffice-Sitzungen unterbrach, um vom KĂŒhlschrank eine Flasche Bier zu holen. Vera zog in den Unterrichtspausen GrĂŒnen Veltliner vor, den Tagesausklang zelebrierten die Eltern hĂ€ufig mit Destilliertem regionaler Herkunft. Bei allem UnglĂŒck, das einem widerfĂ€hrt, sollte man auf die Bauern der Umgebung nicht vergessen. Das stĂ€rkt die SolidaritĂ€t und sichert langfristig die Versorgung. Und die Belohnung fĂŒr Kaspar? Abends, wenn Ben sein Homeoffice schloss und Vera ihre Bestellungen verschickt hatte, da war der Knabe Chef ĂŒber das hĂ€usliche Internet-Geschehen.
Es ist vorbei, man darf wieder raus. Und der Entwicklung, zumindest der körperlichen, hat’s kaum geschadet. Kaspar ist gewichtsmĂ€Ăig sogar ĂŒber dem Durchschnitt. Beim Lernfortschritt gibt’s erste Zweifel und an die abstehenden Ohren wird er sich mit der Zeit gewöhnen. Nach der Scheidung bleibt er bei Vera.
© Franz Brunner 2022-01-17