Flieg, kleiner Vogel!

Jenny Hitz

by Jenny Hitz

Story

Es ist Samstag, Draußen ist es bedeckt. Ich sitze mit einer Tasse Tee neben mir und meinem IPad auf dem Schoß im Bett. Meine Gedanken kreisen. Es ist nicht leicht, innerlich zur Ruhe zu kommen. Ich mache mir schöne, entspannende Klaviermusik an, lasse mich auf die Klänge ein und werde ganz friedlich, während ich ihnen lausche. Eine Weile bin ich einfach still, sitze nur da und genieße diesen Augenblick. Langsam nehme ich wahr, wie eine Szene vor meinem inneren Auge entsteht – erst sehr verschwommen, dann immer deutlicher zu erkennen. Ich sehe einen kleinen Vogel. Sein Gefieder ist wunderschön blau und sein Schnabel leuchtend gelb. Der kleine Vogel zieht am Himmel seine Bahnen, fliegt über Städte, Berge, Flüsse, Seen und Felder. Ich bin tief berührt von diesem Anblick und beginne, so etwas wie Freundschaft mit ihm zu schließen. Mein Platz ist hier auf der Erde und der meines kleinen Freundes am Himmel. Es scheint, als wären wir getrennt von einander. In Wahrheit jedoch sind wir tief miteinander verbunden. Mein Freund fliegt weiter und immer weiter. Er genießt seine unendliche Freiheit. Auf einmal ist seine Freiheit und Unversehrtheit jedoch in Gefahr. Mich durchfährt ein leichtes frösteln und mein Herz schlägt auf der Stelle schneller. “Nein, kleiner Vogel!”, schreit es in mir, “Pass auf! Nicht zu diesen Stromleitungen fliegen, Du verletzt Dich, kleiner Schatz!” Doch es ist zu spät. Er fliegt mitten in die Stromleitungen hinein. Mein Herz rast augenblicklich noch schneller. Ich habe Angst! Angst um meinen kleinen Freund. Jetzt laufen mir heiße Tränen über die Wangen. Er hat sich an seinen Flügeln verletzt. Ich hoffe. Ich bange. Ich bete. “Bitte flieg wieder, kleiner Vogel, flieg!”, flehe ich. Plötzlich schafft er es, wie durch ein Wunder, seine Flügel zu bewegen. Ich bin etwas erleichtert. Er fliegt sehr langsam, weil er wohl Schmerzen hat. Er fliegt in meine Richtung. Der kleine hat mich gesehen und sinkt immer tiefer zu mir hinunter. Nach einiger Zeit landet er völlig erschöpft auf meinem Fensterbrett. Ich öffne das Fenster. Da liegt der kleine Kerl. Sein schönes blaues Gefieder ist ganz zerzaust und seine Flügel bluten. Der arme kleine Vogel. Ich betrachte ihn aufmerksam und sehe seine smaragdgrünen kleinen Augen. Es zerreißt mir das Herz, denn mein kleiner Freund weint. Er weint vor Schmerzen. Ganz behutsam nehme ich ihn in meine Hand, da liegt er nun und ich spüre, wie er am ganzen Körper zittert. Ich tupfe mit einem weichen Tüchlein seine Wunden an den Flügeln sauber, gebe ihm mit beiden Händen Schutz und Wärme, ein kleines Nest aus Geborgenheit. Langsam, ganz langsam beruhigt sich mein kleiner Freund und hört auf zu zittern. Ich gehe mit ihm hinaus, setze mich im Park nebenan auf ein ruhiges Bänkchen. Noch immer halte ich ihn schützend in meinen Händen. Die Sonne scheint. Ich nutze die Gelegenheit, öffne meine Hände und die Strahlen fallen genau auf seine Flügel und heilen sie.

„Flieg los, kleiner Vogel! Du bist heil & frei!”

© Jenny Hitz 2022-04-30

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