Mein Kraftplatz liegt so verborgen, dass ihn kaum jemand findet, außer Wanderer, die sich im unwegsamen Gelände verirren. Ich verlasse oft ausgetretene Wege und mache dann die erstaunlichsten Entdeckungen. So geschehen vor Jahren, als ich ganz zufällig die Klosterruine am Riederberg entdeckte. Das alte Gemäuer liegt in einer Talsohle am Rande einer Schlucht.
Montag war ein sonniger Herbsttag. Wegen der Bauarbeiten auf Story.one suchte ich mein Ersatz-Paradies auf. Jetzt, wo ich weiß, wie es zu finden ist, ist‘s quasi ein Kinderspiel. Von der Forststraße zweigt ein Weg ab. Er führt vorbei an Tümpeln mit Mückengeschwader. Der Erdboden ist feucht. Wasser sammelt sich in Pfützen. Äste knacksen. Eicheln fallen und kommen im gelben Laub zur Ruhe. Sobald ich ein Plätschern höre, sind’s nur mehr ein paar Schritte. Ein verwittertes Holzschild klärt mich auf: Quelle im Paradies.
Vor mir steht das einstige Kloster „Sancta Maria in Paradyso“. Was die Jahrhunderte überlebt hat: Mauerreste, überwuchert von Brennnesselstauden, sonnenbeschienen und jetzt um die Mittagszeit in gleißendes Licht getaucht. Eine Tafel: Betreten auf eigene Gefahr.
Auf einer Holzbank mit Tisch, etwas abseits im kniehohen Gras, dort wo die Sonne um 12 ihre wärmsten Strahlen hinschickt, dort lass‘ ich mich nieder. Einen überdachten Unterschlupf gibt’s nebst drei Auskunftstafeln. Ein geschichtsträchtiger Ort. Ehrfurchtgebietend.
Man stelle sich vor, Mitte des 15. Jahrhunderts machte sich der Franziskaner Gabriel Rangone auf den Weg von Verona nach Österreich. Er folgte dem bekannten Prediger Johann von Capistran, dem übrigens im 6. Bezirk eine Straße gewidmet ist. Zwischen den Ausläufern des Wienerwaldes und dem Tullnerfeld glaubte Gabriel den geeigneten Ort für ein Kloster gefunden zu haben. Dieser ganz und gar abgeschiedene Ort sei ideal für ein paar Patres seines Bettelordens.
Dort, wo bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine Laurentiuskapelle urkundlich erwähnt ist, dort veranlasste er zwischen 1455 und 1464 den Bau des Franziskaner-Observanten-Klosters „Sancta Maria in Paradyso“, das als Bildungsstätte und Schreibstube gedacht war. Er selbst vollendete hier sein Predigerhandbuch „Flores paradisi“.
Das Kloster wurde bei der 1. Türkenbelagerung 1529 gebrandschatzt, lese ich, und ein Großteil des Buchbestandes fiel leider den Flammen zum Opfer. Was gerettet wurde, kann in der Zentralbibliothek der Wiener Franziskanerprovinz in Graz eingesehen werden.
Flores paradisi. Ich erinnere mich, dass im Sommer der gelbe Hahnenfuß die Brennnesselstauden farblich etwas aufgeputzt hat. Aber sonst von Blumen keine Spur. Da fass‘ ich einen Entschluss fürs nächste Frühjahr, die Aussaat von Wiesenblumen für feuchte Standorte: Vergissmeinnicht, Lupinen. Margeriten und Adonisröschen.
Jetzt aber verweile ich noch und höre dem Wind zu. Auf dem Rückweg seh‘ ich auf der Wiese Herbstzeitlosen, büschelweise.
Alles hat seine Zeit.
© Sonja M. Winkler 2020-10-22