Fremder bester Freund

Hannah Kustrin

by Hannah Kustrin

Story


“Das ist so unfair!”, regte sich Helene eines frühen Morgens auf. “Warum muss ich immer mit Felix Schlafengehen? Ich bin älter!”
“Aber nur vier Minuten!”, verzog Felicitas ihren Schmollmund. Mama stellte die handbemalten dampfenden Tassen genervt auf dem runden Küchentisch ab. “Auch wenn ihr jetzt zur Schule geht, seid ihr noch jung und klein. Eure Körper müssen noch wachsen und brauchen den Schlaf.” Helene verschränkte stur die Arme vor der Brust: “Rai darf aber viel länger aufbleiben!” Mama hob ihre Brauen zu Bögen: “Rai? Ein neuer Freund von dir?” Felicitas hatte viele Freunde in der Schule gefunden, schon am ersten Tag sammelte sich eine Traube aus bewundernden Augen um sie. Seit neuestem erzählte Helene aber ständig von Rain, ihrem neuen besten Freund. Sie machten alles zusammen und das, obwohl er ein Junge war. Nur aus diesem Grund war er cooler und abenteuerlustiger als alle Freundinnen zusammen. Aber das würde Felicitas niemals laut aussprechen. Immerhin hatte Mama sie bewusst in zwei getrennte Klassen einschulen lassen, damit sie nicht ständig aneinander klebten und sich nicht um Freunde streiten konnten.
“Er heißt Raim. Nur ich darf ihn Rain nennen”, erwiderte Helene schnippisch. Mit blitzenden Augen ignorierte Mama ihren Patzer vorerst: “Geht er in deine Klasse?” Ihre Neugierde hatte über den Ärger gesiegt. Als Helene keine Anstalten einer Erklärung machte, fuhr sie mit einem Lächeln fort: “Du könntest ihn doch einmal zu uns einladen. Zum Spielen.” Helene führte den Kakao mit stur verzogenem Gesicht zu den Lippen. “Du könntest ihn heute nach der Nummer seiner Eltern fragen, dann kann ich mit ihnen reden.”, holte Mama unbeirrt die Milch für die Cornflakes aus dem Kühlschrank. Helene setzte die Tasse bewusst langsam ab und sagte nur: “Ich mag keine Cornflakes. Die werden so gatschig.” “Die Cinnie Minnies sind leer. Außerdem sind Cornflakes gesünder.” Seufzend starrte Helene auf die gelben Knusperflocken in ihrer blau-weiß geblümelten Schüssel. Felicitas streckte ungeduldig die Finger danach aus: “Wenn du sie nicht willst, esse ich sie.”, und schob ihre leere von sich. “Nein! Ich verhungere!”, stopfte Helene sich einen großen Löffel in den Mund, sodass Milch von ihrem Kinn triefte. “Rai geht nicht auf unsere Schule”m nuschelte Helene mit schmatzenden Lauten. Mama verzog die Miene: Man redet nicht mit vollem Mund. Das solltest du mittlerweile wissen, wenn du alt genug sein willst, um länger aufzubleiben.” Schluckend würgte Helene die Flocken runter. “Rai hat keine Eltern.” “Hat er denn eine Pflegefamilie? Oder ist er im Heim?” Helene zuckte nur und schlürfte die übriggebliebene Milch aus der Schüssel: “Weiß ich nicht. Ich war ja noch nie bei ihm zu Hause.” “Wo hast du ihn denn kennengelernt?” “Weiß nicht mehr so genau. Er ist gerne am Spielplatz und im Park hinter der Schule. Er kann schneller laufen als alle anderen. Ich werde ihn noch schlagen!” Oma hatte immer beschrieben, Helene würde wie ein junges Fohlen durch den Wald galoppieren. Helene war flink wie ein Äffchen und deshalb im Turn- und Karateverein. Felicitas hingegen war kreativ und künstlerisch begabt, das ganze Haus war mit Zeichnungen behängt, die Wände ähnelten einer Kunstausstellung. Gute Noten zu haben, beliebt und im Schulchor zu sein, gaben Felicitas das Gefühl, normal zu sein und dazuzugehören.

© Hannah Kustrin 2023-07-29

Genres
Novels & Stories, Suspense & Horror
Moods
Abenteuerlich, Dunkel, Emotional, Unbeschwert, Mysteriös
Hashtags