Ich bin gerne auf Friedhöfen spazieren. Ich mag die Stille und jedes Grab erzählt seine eigene Geschichte. In Wien Simmering, in der Nähe des Alberner Hafens, befindet sich der “Friedhof der Namenlosen”.
Im 17./18. Jh. wurden Opfer der Donau, die durch einen Wasserstrudel leblos angeschwemmt wurden, an der jeweiligen Fundstelle begraben. Sie bekamen ein Holzkreuz, die Identifizierung war meist nicht möglich. Der kleine Friedhof wurde durch Hochwasser laufend zerstört und so entschloss man sich bald einen neuen Friedhof zu errichten. Als eines Tages auch der Sohn des Totengräbers in der Nähe vom Friedhof tot aufgefunden wurde, übernahm Herr Josef Fuchs seine Arbeit. Er bettelte bei Tischlern um Holzsärge, bei Blumenhändlern um Kränze.
1900 begann die Neubelegung des Friedhofes in ca. 60 m Entfernung. Aufgrund einer natürlichen Vertiefung ein idealer Standort. Die bereits 478 Opfer konnten aus Kostengründen nicht exhumiert werden, sie liegen heute noch dort. Die damalige Gemeinde unterstützte das Vorhaben, übernahm die Bereitstellung von Holzsärgen. In dem kleinen Gebäude, in dem ein Tisch stand, wurden die geborgenen Toten von einem Amtsarzt untersucht. Konnte keine Identität festgestellt werden, wurde der Leichnam begraben. 1932 brachte Hr. Fuchs weitere 50 Opfer mit dem Schubkarren auf den Friedhof. Tote, um die sich niemand kümmerte. 1935 erhielt der Friedhof zur Verstärkung des Dammes eine Mauer und die Auferstehungskapelle. Bis 1940 wurden 104 Wasserleichen beerdigt, 43 davon wurden identifiziert. Als 1939 der Alberner Hafen und Getreidesilos gebaut wurden, änderten sich die Strömungen in der Donau, seitdem wurden keine Leichen mehr angeschwemmt.
1939 musste Hr. Fuchs zur deutschen Wehrmacht, der Friedhof wurde aufgelassen. Als er 1947 vom Krieg heimkehrte, war sein erster Weg zum Friedhof. Die beschädigten und verwahrlosten Gräber sowie die Kapelle wurden wieder auf Vordermann gebracht. Hr. Fuchs durfte eiserne Gusskreuze von aufgelassenen Gräbern des Zentralfriedhof entgegennehmen und sie für die Restaurierung verwenden.
Hr. Fuchs erzählte so manche Erlebnisse: Ein 18 jähriges schwangeres Dienstmädchen, das keinen Ausweg mehr wusste als den Freitod in der Donau oder ein junger Mann, der 1933 am Grab seiner Mutter, die 1927 in der Donau ertrank, erschossen aufgefunden wurde. Der Großteil sind Selbstmörder, die sich in der Donau das Leben nahmen, aber auch Erhängte und Erschossene. Früher war es nicht möglich, einen Selbstmörder auf dem Ortsfriedhof zu beerdigen. Das Grab vom “Sepperl” schreibt Geschichte: Ein kleiner Bub, den Hr. Fuchs in einem Schuhkarton am Ufer der Donau fand und ihm den Namen gab.
Der stillgelegte Friedhof wird nun vom Hafen Wien erhalten. Am ersten Sonntag nach Allerheiligen schicken die Vereinsmitglieder ein geschmücktes Floß mit Blumen und brennenden Kerzen in die Donau. Auf dem Floß befindet sich ein Grabstein mit der Inschrift „Den Opfern der Donau“.
© Yasmin Lohberg 2021-10-31