Friedrich Nietzsche (1844)

Jakob Rinke

by Jakob Rinke

Story

Turin, 1889. Ein Hufschlag, ein Peitschenhieb, ein letzter Schrei. Nietzsche sprang aus der Kutsche, fiel dem gequälten Pferd um den Hals — und brach selbst zusammen. An diesem Tag zersplitterte der Geist, der die Welt infrage gestellt hatte, an der grausamen Selbstverständlichkeit der Welt. Wie konnte es so weit kommen? Was geschah mit Nietzsche nach diesem Vorfall?
Als junger Theologiestudent suchte er Wahrheit und fand Zweifel. Mit 24 Jahren Professor in Basel — ein schneller Aufstieg, doch sein Körper war schwach, geplagt von Migräne und Erschöpfung. Der Geist flog, der Körper stolperte. In Ecce Homo fragte er: ‚Warum ich so weise bin‘ – eine Frage, die ihm wohl niemand gestellt hat. Hinter dem Pomp die Einsamkeit, hinter der Maske das Leid. Der Philosoph der Stärke fand keinen Halt in der Liebe, Lou Andreas-Salomé, dreimal abgewiesen. Sein Herz fühlte sich schwächer als je zuvor. Das langsame Zerbrechen setzte ein. Die Schmerzen wurden dunkler, die Nächte länger, die Gedanken wirrer. Bis zu jenem Tag in Turin. Ein Hufschlag, ein Peitschenhieb, ein letzter Schrei. Nietzsche fiel dem gequälten Tier um den Hals — und brach selbst. Was folgte, war Stille. Er sprach kaum noch. Von nun an kümmerte man sich um ihn, nicht um seine Gedanken. Zehn Jahre in geistiger Umnachtung — bis zu seinem Tod 1900.
Nach dem Zusammenbruch änderte sich sein Denken radikal. In seinen letzten Jahren kristallisierten sich die Kernideen seiner Philosophie heraus — Ideen, die bis heute nachhallen. Zentral ist für Nietzsche die Überwindung des Nihilismus. Für ihn war Nihilismus nicht nur ein intellektuelles Problem, sondern eine existenzielle Bedrohung: das Fehlen eines objektiven Sinns, das Fehlen fester Werte und Glaubenssysteme. Diese Erkenntnis erschütterte ihn tief. Doch statt sich in dieser Leere aufzulösen, suchte er nach einem Ausweg. Der Mensch sollte nicht im Nichts verharren, sondern sich selbst neu erschaffen. In dieser Überwindung des Nihilismus entwickelte er die Idee des Übermenschen — eines Individuums, das sich von traditionellen Werten löst und eigene Werte schafft. Der Übermensch lebt mit Leidenschaft und Intensität, nicht gemäß eines göttlichen Gebots, sondern seines eigenen Willens zur Macht.
Heute, in einer Welt voller Unsicherheit, in der alte Gewissheiten bröckeln und neue Ideologien um Deutungshoheit ringen, ist Nietzsches Denken aktueller denn je. Er fordert uns heraus, nicht in der Sinnlosigkeit zu verharren, sondern aktiv Werte zu hinterfragen und eigene Antworten zu finden. Sein Übermensch ist kein entfernter Idealtyp, sondern eine radikale Einladung zur Selbstgestaltung – zur Überwindung von Konformität, Bequemlichkeit und Angst. Statt nach fremden Autoritäten zu suchen, ermutigt Nietzsche uns, selbst Schöpfer unserer Existenz zu werden. Sein Werk provoziert, erschüttert und inspiriert – weil es uns zwingt, uns der fundamentalsten Frage zu stellen: Wer wollen wir sein?

© Jakob Rinke 2025-06-03

Genres
Novels & Stories