Mein Liebster, der 1. August 2019 beginnt wie jeder andere Tag. Gegen 6.00 Uhr gehe ich ins Bad. Nach kurzer Zeit komme ich wieder und sehe, dass Du Dich aufrichten willst. Es gelingt Dir nicht. Dein Körper kippt immer wieder auf die rechte Seite. Du hattest an den Tagen zuvor unsägliche Rückenschmerzen. „Ach Schatz, heute ist es aber schlimm, warte ich helfe Dir“, höre ich mich sagen. Ich laufe um unser Bett herum und sehe, wie Dir der Schweiß im Gesicht steht. Du bist bleich wie ein Laken und hast das linke Auge weit aufgerissen. Dein rechtes Auge ist geschlossen, Du kannst es nicht öffnen. Ich fühle Deine Stirn, es ist kalter Schweiß. Du kannst nur brummen und Deine rechte Seite nicht bewegen. Eine heiße Welle des Schocks durchfährt meinen Körper. Nach einer gefühlt unendlich langen starren Zeit streichele ich Dich beruhigendund versuche Dich wieder ins Bett zu legen. Das Telefon, wo ist das verdammte Telefon? In einem ersten Impuls wähle ich die Nummer Deiner Hausärztin. Blödsinn! Ich rufe den Notdienst und beschreibe Deine Symptome. Gerade kann ich mir noch Jeans und Shirt über die Schlafsachen werfen, da kommt der Rettungswagen. Sie packen Dich in ein Tragetuch und bringen Dich die Treppe nach unten in den Notarztwagen. Ich traue mich vor Angst kaum zu atmen. Meine Hände zittern. Im Auto schreie ich ganz laut vor Angst und eine Passantin erschrickt heftig. Im Wartebereich vor der neurologischen Intensivstation starre ich auf die Plakate und lese sie wieder und wieder und nehme doch nicht ein einziges Wort auf. Die Zeit scheint sich endlos zu ziehen. Um 11:00 Uhr darf ich endlich zu Dir. Du liegst auf der neurologischen Intensivstation. Unser Freund, selbst auch Neurologe, kommt und steht mir bei während der ärztlichen Aufklärung. Es beruhigt mich sehr, dass er da ist, denn vor Aufregung kann ich nicht zuhören. Er hört für mich zu. Wir sitzen zusammen im Arztzimmer. Du mein Liebster hast wahrscheinlich im Schlaf einen schweren Schlaganfall erlitten, der Deine linke Hirnhälfte stark geschädigt hat. Auch das Sprachzentrum sitzt dort. Ob Du jemals wieder sprechen kannst? Für eine Lyse, also eine Auflösung des Blutgerinnsels mit Medikamenten, ist es zu spät. Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich den „Schlag“ in der Nacht nicht bemerkt habe. Warum nur habe ich geschlafen? Ich habe nicht gut genug auf Dich aufgepasst, mein Liebster. Das bringt mich zum Weinen, immer wieder. Als ich endlich zu Dir darf, in Begleitung von unserer Tochter Johanna und unseres Freundes erkennst Du uns. Der Freund begrüßt Dich und zieht sich dann zurück. Johanna und ich halten Dich abwechselnd bei der linken fühlenden Hand. Ich spüre einen leichten Druck Deiner Hand und streichele Dich. Deine rechte Seite ist gelähmt. Wir sprechen leise mit Dir, massieren sanft Deine Füße. Ich bin glücklich, weil Du mit Deinem Daumen meine Hand streichelst, als wir uns bei den Händen halten. Du hast einen fürchterlichen Schluckauf, der kein Ende zu nehmen scheint. Die Schwestern und Pfleger, die an diesem Tag für Dich zuständig sind, sind sehr liebevoll. Ich darf Dich mit waschen und cremen. Ich bin so glücklich, dass Du mich erkennst. Sie sagen uns, dass die ersten vier Tage sehr kritisch sind und Du dann wahrscheinlich das Schlimmste geschafft hast. Es ist Donnerstag und ich hoffe, dass wir am Montag eine gute Nachricht bekommen. Für heute in Liebe Deine S.
© Sylvia Sänger 2024-02-19