Gänsemädchenbrunnen

Heidemarie Brezina

by Heidemarie Brezina

Story
Wien Rahlstiege Mariahilferstraße 6. Bezirk 1866 – 2024

Die meisten eilen an mir vorbei, und die, die stehen bleiben, wundern sich, warum hier am Beginn einer breiten Einkaufsstraße ein junges Mädchen auf einer Säule steht mit einer zu ihr aufschauenden schnatternden Gans. Als ich hierher gebracht wurde, hatte ich schon zwei Umzüge hinter mir. Am Geflügelmarkt auf der Brandstätte,1866, in der Nähe der Stephanskirche, war der passende Platz für mich, fröhliches Treiben am Markt, Geschnatter, Gurren der Tauben und allerlei andere Geräusche. Doch die Brandstätte wurde erweitert und man stellte mich 13 Jahre später vor die Mariahilferkirche im sechsten Bezirk. Gutgläubige Gänse vor einer Kirche? Man meinte hoffentlich nicht die katholischen Kirchenbesucher. Sieben Jahre später 1886 musste ich dem Denkmal von Joseph Haydn (1732-1809) weichen und man stellte mich auf der Rahlstiege am Beginn der Mariahilferstraße auf. Carl Rahl war ein bekannter Maler damals, auch die Gasse ist nach ihm benannt. Mich hat Anton Paul Wagner, wenig spektakulär und eher unscheinbar, gestaltet, manche meinen auch reizend. Ich blicke zu den großen Museen, dem Kunsthistorischen Museum, dem Naturhistorischen Museum. Ich stehe aufrecht, habe ein Kopftuch um den Kopf, was praktisch war, wenn man den Gänsen nachlaufen musste. Mit der linken Hand halte ich den Rock etwas nach oben, sodass ich vorne Futter für die Gänse hineingeben konnte, die Gans zu meiner rechten Seite bettelt um Futter, so deute ich es. An der Säule sind zwei Wasservögel, es könnten Gänse sein mit gespreizten Flügeln, die Wasser speien in zwei sehr schöne eckige Brunnenbecken aus Stein. In den Beschreibungen von mir steht, dass ich mit einer Gerte die Gans vor mich hertreibe. Eine Gerte habe ich schon gebraucht um den schnatternden Gänsehaufen zusammenzuhalten. Wenn das Fest des Heiligen Martin nahte, wurden viele geschlachtet, das machte mich immer traurig. Hätten sie durch ihr Schnattern nicht Martin von Tours, der nicht Bischof werden wollte, in seinem Versteck verraten, müssten sie für ihren schnatternden Verrat nicht für immer büßen, in dem sie gebraten werden. Ein Bischof rächt sich, wer glaubt denn das? Früher war die Martinsgans der letzte Braten vor dem sechswöchigen Adventfasten, und daher ein ganz besonderer Anlass. Also Gerte hat er mir nicht in die Hand gegeben, der Anton Paul Wagner. Neun Jahre nach meinem Aufstellen hier wurde ein Wohn- und Geschäftshaus gebaut. Das frühere elegante Kaffeehaus Casa Piccola blieb erhalten, Schauspieler und Künstler, wie Egon Friedel und Peter Altenberg gingen ein und aus. Ich sah auch viele elegante Damen an mir vorbei und in das Haus gehen, denn über dem Kaffeehaus befand sich der international bekannte Modesalon von Emilia Louise Flöge, wer kennt sie nicht als Muse und Lebensgefährtin des Malers Gustav Klimt. Erst in der 1980igern zog eine Schuhhandelskette, der Humanic, ein und die Casa Piccola Ecke, gleich bei mir, war der Treffpunkt am Beginn der Mariahilferstraße. Ja ich habe schon vieles gesehen. Jetzt kommt es ab und zu vor, dass Party gefeiert wird um mich herum und man mir lustige Hüte aufsetzt. Man hat mir erzählt, dass es in Göttingen auch eine Gänseliesl gibt, das “meistgeküsste Mädchen der Welt.” Ich beneiden sie.

© Heidemarie Brezina 2024-02-06

Genres
Novels & Stories
Moods
Komisch, Unbeschwert, Reflektierend, Entspannend
Hashtags