Geister der Vergangenheit

cyrillkerrypuerro

by cyrillkerrypuerro

Story

Ich fühle mich benommen. Das letzte Bier auf der Sauftour durch Ljubljana muss eines zu viel gewesen sein. Zu hart haben wir gefeiert, obwohl unsere Reise doch gerade erst begonnen hatte. Wie kleine Kinder haben wir nicht an morgen gedacht, uns einfach treiben lassen – und auf die Konsequenzen gepfiffen. Nun treiben wir kreideweiss und träge durch Zagreb. Wie Geister, die sich in einer fremden Stadt verirrt haben.

Es ist heiss in der kroatischen Hauptstadt. Selbst die einheimische Stadtführerin Katharina läuft rot an, während sie uns historische Ecken, wichtige Plätze und alte Tunnelsysteme zeigt. Schweisstropfen laufen über unsere Stirnen, die schwüle Wärme benebelt unsere Köpfe. Erneut wurden wir von unserer kindlichen Naivität überrollt. Denn was uns im Schulunterricht nicht über die Geschichte dieser Region beigebracht wurde, wird uns hier nun ohne Scheuklappen gnadenlos auf den Tisch gelegt. Wir fühlen uns wie Kinder, die zum ersten Mal das wahre Gesicht der Menschheit kennenlernen. Und wie viel Leid sie auslösen kann.

Katharina erzählt viel. Motiviert verbildlicht sie uns, wie ihre Heimatstadt im Zweiten Weltkrieg aussah. Damals, als das Ustascha-Regime unter seinem Führer Ante Pavelić Gräueltaten an Juden und Andersdenkenden verübte. Sie erklärt, wie Josip Broz Tito nach dem Sieg gegen Hitler und Mussolini in den Strassen gefeiert wurde. Oder, wie die Stadt beim Zerfall Jugoslawiens von ihrer brutalen Vergangenheit eingeholt wurde. Schüsse, Wehklagen und tosender Jubel hallen zwischen den Wänden wieder. Wahrscheinlich hallen sie bis in alle Ewigkeit durch die Gassen.

Die Stadtführung geht dem Ende zu. Nun wirkt auch Katharina ausgelaugt und müde. Strähnen ihrer braunen Haare kleben an ihrer Stirn und an den Wangen. Den Sonnenschirm, den sie die ganze Zeit über mit sich getragen hat, hält sie nur noch schlaff in ihrer linken Hand. Erschlagen von allem, was sie uns erzählt hat, folgen wir ihr zum letzten Posten, unweit vom Ban-Jelačić-Platz entfernt. Sie zeigt uns nochmals Bilder von wichtigen Politikern aus Kroatien. Während sie das Bild von Ante Pavelić aufhält, passiert es.

Zwei junge Männer gehen an uns vorbei. Einer zeigt schon fast höhnisch grinsend auf das Bild des einstigen Faschistenführers und lacht, als wäre die brutale Verfolgung von Minderheiten nur ein Witz gewesen. Als wäre dieser dunkle Teil in der Geschichte Kroatiens nur ein kleiner Tümpel, der in der Sommerhitze des Balkans schon lange verdunstet ist. Klein und unbedeutend. Sein Lachen hinterlässt einen schmerzenden Riss in meiner jungen, demokratischen Seele. Und schnell fühle ich wieder wie ein naives Kind nach seinem ersten Sturz, das nun sein blutiges Knie schluchzend begutachtet. Erst jetzt wird mir klar, dass wir in dieser Stadt nicht die einzigen Geister sind. Es sind auch die Geister der Vergangenheit, die sich hier umhertreiben. Vor allem die bösen.

Doch schnell verfliegt meine Trauer um die eigene Spezies. Denn die nassen Haare von Katharina erinnern mich an dich. Und ich frage mich: Wo steckst du?

© cyrillkerrypuerro 2023-12-07

Genres
Novels & Stories, Travel
Moods
Abenteuerlich
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