Die kleine Welt im Grätzel, in dem ich wohne. Seit 100 Jahren besteht sie jetzt. Von außen betrachtet ist sie beschaulich, fast langweilig, ohne weltbewegende Ereignisse. Für die Menschen, die hier gelebt haben und leben, ist diese kleine Welt mit guten und schweren Zeiten verbunden. Mit Liebe, auch mit Streit, auf jeden Fall mit lauter persönlichen Schicksalen.
Hinterer Gartenzaun: Der alte Josef und seine Frau Marthe haben hier gewohnt. Er war kriegsversehrt. Ob im I. oder II. Weltkrieg? Er musste beide hautnahe miterleben. Eine Portierstelle hat er dann gehabt. Und die Marthe hat auf die 4 Kinder geschaut, Obst und Gemüse im Garten abgebaut und so die Familie über die Runden gebracht. Dann kamen Tochter Lotte und ihr Mann Anton. Die Lotte war das ‘Informationszentrum’ des nachbarschaftlichen Kosmos. Stets informiert und informationsfreudig. Anton war ein geschickter Bastler, mit ihm haben wir unsere Weihnachtskrippe gebaut. Die halte ich noch immer in Ehren. Mutig war der Anton. Er hat sich getraut, seinen sicheren Job zu kündigen und beim Roten Kreuz als Sanitäter anzufangen. Das war seine Berufung. Er hat es nicht bereut. Heute leben Sohn Gerhard und seine Frau Moni hier.
Rechter Gartenzaun: Resi und Franz. Die Resi war eine Waldviertlerin. Ein uneheliches Kind hat sie gehabt, von einem französischen Landarbeiter. Im Waldviertel bei den Eltern durfte sie nicht bleiben, musste nach Wien. Dort hat sie ihren Franz kennengelernt und ist mit ihm an den Stadtrand gezogen, zu einem Onkel, den sie dann gepflegt hat. Die Resi war eine wunderbare Köchin, nur Germknödel wollten ihr nicht gelingen, aber gerade die waren die Leibspeise vom Franz. Immer wenn meine Mama welche gemacht hat, hat der Franz eine Portion bekommen. Sein strahlendes Lächeln sehe ich noch vor mir. Heute wohnen Susanne und Thomas hier. Auch sie kamen von Wien hierher, haben ein neues Haus gebaut und leben sich langsam ein.
Daneben: Anna und Josef haben als eine der Ersten hier gebaut. Die Anna war eine schöne junge Frau, der Josef ein fleißiger, schneidiger Bursche. Ein schönes Paar waren sie. Aber leider war der Josef auch jähzornig und herrisch, überhaupt wenn er getrunken hatte. Die Anna hatte es nicht leicht mit ihm, hat aber wegen der 7 Kinder durchgehalten. Dann übernahmen Tochter Anni und ihr Mann Willi. 2 Kinder machten das Glück perfekt. Bis Willi viel zu jung nach einem Schlaganfall starb. Die junge Witwe hat sich tapfer durchgekämpft und für die Kinder gesorgt. Heute lebt Sohn Manfred hier und ist auch schon in Pension.
Gegenüber: Die Frieda mit ihrer Tochter Erika, Schwiegersohn Edi und Enkerl Regina. Frieda wurde 100 Jahre alt, da war was los. Erika und Edi hatten viele schöne Jahre, bis Edi Alzheimer bekam und seine Familie nicht mehr erkannte. Erika ist nach seinem Tod in eine Seniorenresidenz gezogen.
So viele Schicksale. Und so viele kleine Geschichten, an die man sich lächelnd erinnert. Was wohl in 100 Jahren über uns erzählt wird?
© Annemarie Hülber 2022-10-25