Die Szene vor meinem inneren Auge ist in heißen Dunst gehüllt. Es handelt sich um eine meiner ersten Erinnerungen.
Vati und Herr Koppensteiner steigen aus dem Auto. Wir drei, Vati, Mutti und ich waren mit den Koppensteiner unterwegs. Dieser Name fiel oft bei uns daheim. Er war ein Arbeitskollege und Freund meines Vaters, hochgewachsen und schlaksig. Seine Frau war kleiner als Mutti, hatte blondes, dauergewelltes Haar und ein Muttermal auf einer Wange. Die beiden hatten keine Kinder. Ich weiß nicht, ob sie je welche bekamen, denn mit Vatis Tod brach der Kontakt ab. Die Tante Berta hatte ich gern.
Vati ist also mit dem Auto stehengeblieben. Er und Herr Koppensteiner steigen aus und überqueren die Straße, gehen zu einem Verkaufsstand. Davor steht ein Eisengestell. Heiße, flirrende Luft schwebt über dem Grillaufsatz. Und zum ersten Mal in meinem Leben rieche ich etwas, das ich noch nie zuvor gerochen habe. Und dieser Geruch kriegt jetzt einen Namen: Steckerlfisch. Das Wort ist bis heute untrennbar mit diesem unwiderstehlichen Geruch verbunden.
Die beiden Männer kommen mit Papptellern zurück, auf jedem ein mit einem Holzstab durchbohrter Fisch. Ich bekomme keinen eigenen. Abwechselnd schieben Mutti und Vati einen Bissen in meinen Mund. Die Haut ist knusprig.
Die erinnerte Szene läuft ab wie im Stummfilm. Alle Information, an die ich mich heute noch erinnern kann, muss ich der Körpersprache meines Vaters entnommen haben. Das Wort „Gräten“ kann gefallen sein, es war damals jedoch noch nicht in meinem Wortschatz. Sie müssen es aber gewesen sein, wovor Vati warnte. Ich könnte mich verkutzen wie damals, als ich seine Manschettenknöpfe fast verschluckt hätte. Da hat er mich nämlich bei den Füßen gepackt, mich kopfüber hängen lassen und wie verrückt auf meinen Rücken geklopft, bis ich endlich die Knöpfe hinausspuckte. Auch diese Erinnerung, wie ein Standbild in der Bauernstube meiner Großeltern.
Beim letzten Linz-Besuch erzählte mir meine Mutter von ihrem ersten Urlaub mit Vati. Nach Grado seien sie gefahren, mit dem Motorrad, und in der Lagune bei Mestre seien sie ins Wasser gegangen. Es habe gestunken, sagte sie, nach gebratenem Fisch.
Und plötzlich fiel mir der Steckerlfisch ein, und ich erzählte ihr, woran ich mich erinnere, und sie sagte nicht wie so oft, dass ich mir das alles einbilde, ganz im Gegenteil. Die Koppensteiner, sagte sie, der Franzl und die Berta, die hätten damals schon einen Fernseher gehabt, aber kein Auto. Wir aber haben ein Auto gehabt, einen erbsengrünen Ford, aber keinen Fernseher.
Im Spätsommer 1958, fuhr meine Mutter fort, da haben wir mit den Koppensteiner einen Wochenendausflug gemacht zu den Langbathseen. In einer Waldschneise hat der Ernst geparkt. Einen schönen Rundwanderweg sind wir gegangen. Und ja, auf der Heimfahrt, bei Ebensee, da haben wir Steckerlfische gegessen. Dass du dich daran noch erinnern kannst, sagte meine Mutter bewundernd. Du warst damals erst dreieinhalb Jahre alt.
© Sonja M. Winkler 2021-02-19