by Laura Schenk
Als aber die letzte der Musen die Hand ausstreckt, da flackert für einen Herzschlag das Gefühl in mir auf, sie rufe nach mir und nicht den Zikaden. Das Gefühl ist so heftig, dass ich mir die Hand vor den Mund schlagen muss.
Ich erkenne: Ich – als Mensch, der ich bin –bin Zikade. Ich bin Zikade, die einst Mensch war. Über all sein Singen hat dieser Mensch vergessen zu essen und vor allem zu trinken und musste sogleich sterben an diesem Gesang. Als Zikade aber konnte er singen bis zum Tode, ohne jemals an Nahrung denken zu müssen. Ich bin also als Mensch Zikade, die sich darauf zurückbesinnt, Mensch gewesen zu sein.
„Was habt ihr zu berichten?“, fragt die Göttin die zwölf, die dem Ruf gefolgt sind und nun auf ihrem Arm sitzen. Die singen ihr flüsternd Dinge zu und schmiegen sich an ihre Haut, als wollten sie sie niemals mehr verlassen müssen.
Ich beuge mich vor, begierig etwas von ihren Worten aufzuschnappen, durstig nach der Schönheit ihres Gesangs, der mich so tief im Inneren ergreift, es könnte ja auch der meinige sein.
„Keinen wollt ihr gefunden haben? Nicht einen, der zu eurer Zeit nicht schläft und sich nicht wie ein Blinder gegen alles verhält, das ihn umgibt?“
Die zwölf singen und säuseln einen Ton, der nur ein Nein bedeuten kann. Es vibriert in allen Tiefen meines Körpers, dieses Nein. Von einer so erschlagenden Feinheit ist es, dass mir Tränen in die Augen steigen und ich nichts sehnlicher wünsche, als so singen zu können, so Nein zu sagen.
Vielleicht kann niemand so rein malen oder singen, wie es die Natur durch sich selbst einfach ist. Aber diese da, die sind durch ihr Singen zur Natur geworden. Die sind Teil einer unverfälschten Reinheit, die ich als Zikade, die aber auch noch Mensch ist, nicht hoffen darf, je zu erreichen.
„Nun“, sagt die letzte Muse, „dann habt ihr einen wohl übersehen.“
Sie streckt auch den anderen Arm aus. Über alle Ergriffenheit über die gewaltige Schönheit der Welt bemerke ich erst nach ein paar stolpernden Herzschlägen, dass dieser Ruf nun wirklich mir gilt. Ich trete hinter dem Stamm der Platane hervor, kann die Augen nicht von ihr wenden.
„Du bist wohl einer“, sagt sie und ich weiß, was sie meint. „Ja“, will ich sagen. „Ja, ich, ich bin so einer.“ Aber meine Finger berühren ihren Arm. Alle tiefe Erregung zieht sich zusammen, bäumt sich kräftig auf in mir und über die Begegnung mit ihr, mit der anderen, vergesse ich vollkommen, wer ich eigentlich bin.
© Laura Schenk 2022-06-30