Gestern

Gudrun Salzer

by Gudrun Salzer

Story

Drei Briefe, zwei davon dienstlich, ein privater und ein Päckchen bewegen mich durchs Dorf. Sie baumeln in meiner Tasche. Links geschultert. Rechter Hand schwingt ein brauner Papiersack voller ausgelesener Bücher. Einige sind aus den wohnzimmerlichen Regalen geplatzt, andere wiederum Leihgaben aus diversen Bücherkisten und hoffen auf neue Pflegelesende.

Im Gehen dämmert mir der zu Hause stationierte Brotsack, der sich mit gähnender Leere auszeichnet, und so kehre ich post- und bücherbepackt beim Bäcker zu.

Seitlich neben dem Eingang wurde vor Jahren der Kaffeetisch zur Lesetauschbörse umfunktioniert. Ich übergebe meine Papiertaschenliteratur an die Seniorchefin des Hauses und ordere mein Lieblingsbrot, das somit mein Wochendfrühstück perfektioniert. Wir tauschen Brot gegen Euros. Die” Büchertasch” bleibt unberührt am Tresen.

“Brauchst du die laare Tasch?”, fragt sie.

“Na, bittsche nit!“, erwidere ich schmunzelnd.

Gerade als ich mich verabschieden möchte, bleibt ihr Blick am Buchcover zu oberst hängen. Still ist es schlagartig im Geschäft. Gefühlt höre ich das Mehl in der Nebenanbackstube rieseln. Langsam heben sich ihre Augen und suchen die Meinen.

“An Harri sei Schwesta, die hod a so schwoschze Hoo gkobt.” Nach einer Gedankenpause fährt sie fort:” Sie hod si a oiwei so Blia a die Hoo gsteckt. Genauaso.”

Sie hebt das Buch aus der Tasche und ich betrachte die schwarze Haarpracht mit der leuchtend roten Blüte.

“Wia die Maria?”, antworte ich leise.

Zerbrechlich nickend wirken die Gesichtszüge meines Gegenübers. Mir wird es eng ums Herz. Die Maria, ist vor einigen Jahren plötzlich verstorben. Viel zu früh. Ein Schock für die Familie und Freunde. In einem Dorf sind alle irgendwie mit allen verbunden- die Momente in der Aussegnungshalle wogen damals schwer wie Blei.

Sie nickt:”Des Büd hod mi hiaz so on sie eainnat.“ Augenblicke in Blei verbinden. Und genau jetzt teilen wir uns wieder einen.

Sie weiß nichts von dem, was mir heute morgen kurzzeitig den Boden unter den Füßen wegzog. Und doch hab ich das Gefühl, ein offenes Buch zu sein.

Meine oberösterreichischen Wurzeln machen sich bemerkbar. Mit ihnen sind Menschen verwoben. Wir haben gemeinsam gelacht und gefeiert. Geweint und getrauert. Philosophiert und gekocht. Die Nacht zum Tag gemacht oder innegehalten.

Filmszenen laufen seit heute morgen und immer wieder enden sie fassungslos.

Plötzlich. Unerwartet. Fünfundvierzig.

Der leise Türklingelton ist das Zeichen zur Rückkehr ins Hier und Jetzt. Es beamt uns wie mit einem Fingerschnipp aus den alten Welten. Die Türe öffnet sich. Neue Kundschaft betritt den Verkaufsraum.

“Pfiati!”.

Ich überquere die Straße. Still ist es beim Postpartner. Das Päckchen landet zwischen seinen Artgenossen. Die Dienstpost ist ordnungsgemäß frankiert. Das private Kuvert wartet auf einen Stempel. Und auf seine Reise nach Oberösterreich. Zu deinem Mann. Zu deinem Kind.

Plötzlich und unerwartet. Die Reise ins Gestern.

© Gudrun Salzer 2022-08-28

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