Gewitterwolken

lilyrisch

by lilyrisch

Story

Ich sehne mich nach den Gewitterwolken. Nicht jenen, in meinem Kopf, sondern jenen, die nach einem zu heißen Sommertag frei und wild über den Himmel ziehen, ihre Energie in Blitzen entladen und grollend ihre Anwesenheit kundtun. Der Wind, der aufkommt und die Ruhe vor dem Sturm hinwegfegt, wirkt genauso betörend auf mich wie der Regen, der auf den noch heißen Asphalt niederprasselt und dort anfangs ein Zischen und Dampfen auslöst, weil sich Kälte und Hitze zu schnell annähern.

Ich sehne mich nach diesen Naturschauspielen, weil ich die dunklen Wolkentürme in meinem Kopf nicht mehr ertrage. Sie entladen sich nicht, sondern stauen sich nun bereits über Jahre hinweg immer dichter und dichter zusammen. Zuerst war es die Pandemie, die einen leichten Nebel aufsteigen ließ, der meiner Wahrnehmung einen Grauton verpasste; eine Maske, die ein tiefes Durchatmen für lange Zeit einschränkte und zuletzt, gerade als ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar schien, ein Mann, dessen Taten mir schlussendlich völlig den Atem raubten. Mutlos und reglos stocken meine Gedanken und ich weiß, dass ich Gewitterwolken immer geliebt habe, aber nicht diese.

Ich liebe die kühle Brise, die mir eine Gänsehaut über den Körper laufen lässt, wenn ich wie früher auf dem Balkon sitze und dem heranziehenden Wetter zuschaue. „Ein bisschen noch“, habe ich zu Mama immer gesagt, wenn sie meinte, wir sollten jetzt hineingehen. „Nur so lange, bis es zu unseren Zehen regnet.“, war stets ihre Antwort, woraufhin ich meine Zehen immer noch ein Stück näher an mich heranzog. Auch diesen Sommerregen liebe ich, der meist erst ein wenig später folgt, nachdem Blitz und Donner sich schon eine Weile am Himmel und in der Luft entfalten konnten. Er legt sich beruhigend über die aufgewühlte Landschaft und nimmt dem Spektakel ein wenig von seiner Bedrohlichkeit. Alles was passiert, ist unkontrollierbar. Die Natur geht ihren Weg.

Eine Pandemie scheint nach mittlerweile zwei Jahren auch in gewisser Weise unkontrollierbar zu sein. Was meine Kopfwolken aber wirklich bedrohlich macht, sind die Dinge, die wir eigentlich unter Kontrolle haben sollten. Kriege stehen als Mahnmale in allen Geschichtsbüchern und niemand sollte Teil davon sein, weitere Seiten in diesen Büchern mit ähnlichen Erzählungen zu füllen, ganz gleich ob es sich erneut um Kriege oder “militärische Operationen” handelt. Die Pandemie und ihre rasante Verbreitung sind der beste Beweis dafür, dass Grenzen hauptsächlich auf dem Papier existieren und dass es sich in einer Welt, in der das Gefühl der grenzenlosen Freiheit zu unserem obersten Gebot wurde, nicht lohnt, für Landesgrenzen zu töten.

Gewitterwolken allein haben das Recht, den Himmel mit Groll zu erfüllen, mit Blitzen die Nacht zu erhellen und uns mit kühlen Winden einen Schauer über den Rücken zu jagen. Menschen nicht.

© lilyrisch 2022-04-01

Hashtags