Ginkgo Graz

Christine Amon

by Christine Amon

Story

Bäume sind modern, Geschichten über Bäume auch. Wir züchten Bäume. Was liegt also näher, als auch einmal eine Geschichte über Bäume zu schreiben?

Einer der faszinierendsten Bäume überhaupt ist für mich der Ginkgo. Früher diskutierte man darüber, ob der Ginkgo ein Nadelbaum oder ein Laubbaum ist. Für die Nadelbaum-Theorie sprach die Tatsache, dass der Ginkgo ein Nacktsamer ist wie die „richtigen” Nadelbäume Fichte, Tanne oder Lärche, für die Laubbaum-Theorie der unübersehbare Umstand, dass er Blätter hat! Aber nun hat man sich darauf geeinigt, dass er eine ganz eigene Art ist. Er ist halt einfach ein Ginkgo. Punkt.

Der Ginkgo ist nicht nur sehr, sehr alt, sondern auch außergewöhnlich widerstandsfähig. 800 Meter neben dem Zentrum der Atombombenexplosion von Hiroshima stand ein Ginkgobaum, der vorerst ebenfalls dem Erdboden gleich war. Allerdings trieben die Wurzeln des Ginkgobaums nach einem Jahr wieder aus.

In vielen Parks stehen Ginkgobäume, die meisten davon sind männlich, weil die Früchte nach dem Abfallen einen grässlichen Geruch nach Buttersäure verströmen. Deshalb werden die Ginkgobäume heutzutage hauptsächlich durch Stecklinge vermehrt, um sicher ein männliches Exemplar ohne Früchte zu erhalten.

Dennoch findet man hier und da einen weiblichen Baum mit Früchten. Beim Uhrturm in Graz steht ein solcher. Anlässlich eines Urlaubs haben mein Mann und ich ihn besichtigt und bewundert. Zufällig war ich im darauf folgenden Winter mit meiner Mutter abermals in Graz. Wir besuchten wieder den Uhrturm. Beim Aufstieg überlegte ich , ob ich den Baum in unbelaubtem Zustand noch erkennen würde. Da empfing uns schon der charakteristische Geruch nach Buttersäure (den ich noch vom Chemieunterricht kannte).

„Mama, da stinkt es! Ein Ginkgobaum!”. Ja, ein Ginkgobaum – meine Mutter kannte ihn. Sie kannte nämlich nicht nur die Blätter, sondern auch die Früchte. Allerdings wusste sie nicht, dass die stinken. In der Schule, die meine Mutter als Mädchen besucht hatte, hatte man die Früchte aufgesammelt und Most daraus bereitet. Offensichtlich war das, bevor sie zu stinken begannen.

Nachdem mein Mann und ich eine Baumschule betreiben und auch Ginkgo anbauen, beschlossen wir, einfach ein paar Früchte mitzunehmen. So kam es, dass meine Mutter und ich an einem milden Jännertag unter dem Ginkgobaum beim Grazer Uhrturm Früchte aufsammelten. Sie schauen ein bisschen aus wie kleine gelbe Ringlotten.

Ich befürchtete ständig, von irgendjemanden streng gefragt zu werden: „Was tun Sie denn hier?“ – aber niemand interessierte sich für uns. Allerdings, beim Heimfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Graz wurden wir mit seltsamen Blicken bedacht. In unserem Quartier lagerten wir unsere Beute auf dem Balkon und trotzdem glaubten wir, vom Geruch verfolgt zu werden. Aber mein Mann hat die Samen angebaut und wir hatten jahrelang Gingkobäumchen aus Graz zu verkaufen!

© Christine Amon 2019-11-11

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