Ich kann es in seinen Augen sehen. Seinen großen traurigen Augen. Kein Wiedererkennen. Und obwohl ich damit gerechnet habe, tut es weh. Nicht, dass ich ihm böse sein kann. Oder darf. Keine Mutter, die ihr Kind weggibt, darf ihm böse sein, wenn es nach Monaten oder gar Jahren nicht mehr weiß, wer diese fremde Frau ist.
Mein Junge versteckt sich hinter den Beinen seines Großvaters und starrt weiter stumm dahinter hervor. Ich spüre die Unzufriedenheit meines Mannes. Vielleicht hat er erwartet, dass unser Kleiner uns freudestrahlend entgegenrennt. Meine Schwiegermutter zuckt nur hilflos mit den Schultern. ‚Was soll man machen?‘, scheint das Zucken zu fragen. ‚Selber schuld‘, scheint es zu sagen. Recht hat es. Wir sind schuld. Weil wir ein Kind in die Welt gebracht haben, für das wir noch keine Zeit haben. Kurz kommen Erinnerungen hoch.
Mein kleiner Säugling ganz allein in dem großen kalten Haus. Allein bis ich komme, um ihn zu füttern. Dann weitere endlos lange, einsame Stunden in dem Haus. Er schreit und schreit und schreit. Bis seine winzig kleine Leiste bricht. Das war das Ende seiner einsamen Schreie. Nach einer kleinen Operation und dem Aufenthalt im Krankenhaus mache ich meinem Mann klar, dass es so nicht weitergehen kann und eine neue Lösung hermuss.
Doch ich kann nicht einfach Zuhause bleiben. Das ist nicht der Plan. Dafür sind wir nicht in dieses fremde Land gekommen. Wir sind gekommen, um zu arbeiten. Und arbeiten müssen wir. Also bringen wir ihn hierher. Zurück in die alte Heimat. Auf den Hof meiner Schwiegereltern. Wo es nicht einmal fließend Wasser gibt. Aber wenigstens ist mein Junge hier nie allein. Nicht einmal nachts, wenn er zwischen seinen Großeltern schläft.
Ich versuche all die Dinge zu ignorieren, die ich verpasst habe. Seine ersten Schritte. Seine ersten Worte. Jeden Albtraum und auch jedes schöne Erlebnis. Seit zwei Jahren verpasse ich alles. Aber wenigstens ist er nicht mehr allein. Das ist alles, was zählt. Nur noch ein weiteres Jahr. Dann ist er alt genug, um ihn zurückzuholen.
Ich ignoriere die Sorge darüber, wie es für ihn sein wird, ihn von hier wegzureißen. Von den Menschen, die ihn seit zwei Jahren großziehen. Von den Hühnern und Schafen und Schweinen und der Natur. Zurück in die kalte Wohnung mitten in der Stadt.
Doch vor allem zurück zu mir.
© Mara-Tabea Sarcevic 2021-04-01