Hertha

Sabine Benedukt

by Sabine Benedukt

Story
Pasching 1975 – 1989

Jedes Jahr treffen wir uns an Allerheiligen auf dem Friedhof. Es ist aber alles andere als ein trauriges Wiedersehen, im Gegenteil. Bevor ich mich zum Grab meiner Mutter begebe, suche ich das ihrer Eltern auf, weil ich weiß, dass sie dort steht. Hertha war die Freundin meiner Mutter und ist jetzt fast 86 Jahre alt. Ich glaube mit bestem Gewissen sagen zu können, dass ich noch nie einen Menschen kennengelernt habe, der so viel Lebensfreude ausstrahlt wie sie, und dabei so rüstig ist. 86 Jahre? Unglaublich! Sie selbst sagt, „jetzt wird es schon gruselig“. Aber im selben Moment lacht sie darüber. Sie erzählt mir von ihrem Tagesablauf, vom Singen einer Mozartmesse mit dem Kirchenchor am Vormittag und einem Theaterbesuch am Abend. Vom Austragen der monatlichen Kirchenzeitung und dass sie seit 40 Jahren immer wieder einen kleinen Hund hat und mit ihm spazieren geht. Sie liebt Tiere, genauso wie Menschen, und das Singen und Tanzen. Darum ist sie in einer Linedance-Tanzgruppe. Bis vor ein paar Jahren soufflierte sie auch noch bei einem Laientheater. Nebenbei löst sie Rätsel und Sudoku, um den Kopf zu trainieren. Nur das Autofahren, das hat sie vor zwei Jahren aufgegeben.

Wenn der Herrgott sie zu sich ruft, dann wird sie schon ein Hühnchen mit ihm rupfen, weil er ihr so viel zugemutet hat, meinte sie diesmal. Ja, leicht hatte sie es nicht. Als sie 15 Jahre alt war, sind ihre Eltern bei einem Motorradunfall beide ums Leben gekommen, sie wuchs dann bei der Tante auf. Nun ist sie liebende Mutter, Oma und Uroma. Auch ihre Tochter ist in den letzten Jahren bei diesem Treffen immer dabei, wir waren in unserer Jugend genauso befreundet, wie unsere Mütter. Beim Trachtenverein und dem Volkstanzen hat alles angefangen. Nach einer Veranstaltung, auf dem gemeinsamen Nachhauseweg erzählten sich die Frauen ihr Leben und fanden viele Übereinstimmungen: Beide alleinerziehend, zwei Kinder geboren, mussten sie ganz ohne irgendeine Unterstützung der Väter über die Runden kommen. Jede arbeitete Vollzeit, finanzierte allein die Wohnung und kümmerte sich um die Kinder. Auf Anhieb verstanden sie sich gut, Hertha und meine Mutter versprühten trotz ihren vielen kleinen Sorgen große Lebensfreude.

Alljährlich auf dem Friedhof, schwelgen wir in Erinnerungen und es kann passieren, dass wir laut lachen müssen, über die Erlebnisse der alten Zeiten. Hertha hatte mit etwa 40 Jahren den Führerschein gemacht. Mit ihrem alten VW-Käfer ging es auf gemeinsame Ausflüge, oder zu einem abendlichen Ball, denn getanzt haben wir alle gerne. Wenn wir dann, um den Heimweg antreten zu können, im Ballkleid das alte Auto anschieben mussten, nahmen wir auch das mit Humor.

Im Sommer wurden am Wochenende alte Stühle und ein Tisch hinter unserem Wohnhaus auf der Wiese aufgestellt, um Kaffee zu trinken. Sogar Weihnachten haben wir gemeinsam verbracht. Zuerst hat jede kleine Familie für sich gefeiert, aber etwas später am Abend saßen wir dann alle bei uns im Wohnzimmer. Als jugendliches Mädchen war das für mich selbstverständlich. Erst viel später ist mir bewusst geworden, wie gut diese Freundschaft den beiden Frauen getan hat.


© Sabine Benedukt 2024-11-06

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert
Hashtags