Herz im Glas

Sonja M. Büttner

by Sonja M. Büttner

Story

Wann immer es mir zu viel wird, mich meine Emotionen übermannen und mir die Luft zum Atmen nehmen, packe ich mein Herz in ein Glas und stelle es ganz oben aufs Regal. Ganz oben, denn das Herz ist ja wichtig. Aber ganz oben auch deshalb, weil ich nicht besonders groß bin und die Versuchung, es gleich wieder rückgängig zu machen, dann geringer ist.

Dieses Regal steht in einer Kammer. Die Kammer hat einen Schlüssel. Und, jene Kammer ist am entlegensten Flur meines Gedankenpalastes, ganz am Ende gelegen. Warum? Nun, weil der Kopf ohne Gefühle manchmal einfach besser denken kann. Und dann möchte er nicht das Herz hören, wie es sich quält und schreit, „Lass mich raus!“

Wenn Kopf und Herz zusammenarbeiten, sind sie das stärkste Team, das man sich vorstellen kann. Nicht nach der humorvollen Definition „TEAM – Toll Ein anderer Macht’s“, nein, ein wirkliches Team. Aber wann ist das schon mal der Fall? Wann sind sich Gefühl und Verstand mal einig? Gerade dann, wenn es schwierig wird – nicht.

Deshalb hab ich dieses Glas. Ich bin ein logisch denkender Mensch, jemand, der plant. Gefühle, habe ich die Erfahrung gemacht, kommen einem meist nur in die Quere und das im ganz falschen Moment. Wenn einen alte Erinnerungen einholen. Jemand alte Wunden aufreißt. Worte verletzen, verletzen wollen. Sich der Schaden aus der Kindheit wieder bemerkbar macht. Anders gesagt, wenn der Motor nicht ganz rund oder überhaupt nicht mehr läuft, dann kommt das Herz ins Glas. Das Glas in die Kammer. Die Kammer wird abgesperrt. Der Schlüssel am anderen Ende des Gedankenpalastes verwahrt. – Dann heißt es nur noch denken, nicht mehr fühlen. Logisch denken. Nicht verletzt werden. Kein Mitleid empfinden. Nicht mehr empathisch sein. Nicht mehr weinen. Nicht mehr zornig sein. Nichts von alledem.

Der Schalter ist umgelegt. Das Herz weggesperrt. – Bis es vorbei ist. Der Schmerz. Das Leid. Die Trauer. Die Angst. – Bis es vorbei ist. Agieren, reagieren, den Karren aus dem Dreck ziehen. All das mit einem unbändigen Willen, der von keinen Gefühlen ausgebremst wird. Bis das Ziel erreicht ist. – Bis es vorbei ist.

Seit mein Vater damals verstorben ist, hab ich mein Herz im Glas. Ich hol es nur noch ganz selten raus. Zu besonderen Gelegenheiten, sozusagen. Denn ansonsten ist der Verlust zu groß. Ansonsten sitzt der Schmerz zu tief, und die Verantwortung wiegt zu schwer, als dass ich, so allein wie ich auf dieser Welt nun bin, all das stemmen könnte, all das überleben könnte.

Wie oft bin ich wieder aufgestanden? Wie oft hab ich die Scherben wieder aufgesammelt. Mich selbst wieder aufgerichtet. Mich selbst repariert. Aber repariert ist eben nie so ganz wie vorher. Es bleibt immer etwas zurück. Eine Kerbe. Ein Riss. Eine Schweißnaht. Ein Loch, weil man einen Teil von sich nicht mehr wiederfindet, verloren hat.

All das möchte ich meinem Herzen ersparen. Denn wenn mein Herz an all dem zerbricht, zerbricht auch mein Wille, dann zerbreche ich.

Deshalb bewahre ich mein Herz im Glas.

© Sonja M. Büttner 2022-10-07

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