Hi, mein Name ist Delilah

Isla Novelle

by Isla Novelle

Story

Ich hatte wenig Ahnung über meine Kindheit. Obwohl ich mich jedes Mal anstrengte ein Fetzen aus meiner Vergangenheit zu bekommen, tauchte trotzdem nur die Dunkelheit in meinem Schädel auf. Man konnte es sich so vorstellen, ich war ein Kind, das vor einem alten Röhrenfernseher saß und mein Ziel war es die alten, längst aufgenommen Folgen meiner Lieblingsserie anzuschauen, doch anstatt ein klares Signal über die lange Antenne zu kriegen, war der Bildschirm einfach nur pechschwarz. Man würde vermuten, dass etwas mit dem ganzen Fernseher nicht funktionierte, dennoch lag der Fehler ganz klar nur an der Antenne. Und so war es auch bei mir der Fall: nicht der Körper war kaputt, sondern der Geist, der diesen Leib antrieb. Immer wenn die anderen über ihre Leben sprachen, blieb ich stumm, denn ich konnte nie wirklich mitreden. Ich hatte keine Ahnung, was im Kindergarten passiert war oder in den Anfängen meiner Schulkarriere. Dieses Unwissen machte mir ein wenig Angst. So langsam kapierte ich, dass nicht ich diejenige war, der diese Erinnerungen bestimmt waren. Wer waren diese Fassetten von meinem ganzen Ich, die dieses Wissen in ihrem Schoße trugen? Würden sie mir eines Tages mal gestatten einen Blick auf diese Bilder zu werfen?

Schon eine Weile war ich in dieser psychiatrischen Klinik stationiert. Zum Glück hatte ich nicht das Gefühl hier in diesen vier Wänden gefangen zu sein, nicht so wie ein paar meiner Mitpatienten. Sie hatten immer etwas zu meckern. Das Essen schmeckte ihnen nicht, die Zimmer waren zu klein, die Brettspiele, die uns im Aufenthaltsraum angeboten wurden, waren zu langweilig. Blah blah blah. Sie gaben sich mit nichts zufrieden. Meine Eltern hatten mich gut erzogen, ich war weder wählerisch noch undankbar. Ich würde mich nicht einmal trauen Kritik über die Arbeit dieser Pfleger und Betreuer auszusprechen. Nur Jugendliche, die lebensmüde waren, würden sich bei erwachsenen auskotzen. Genau wie die Sonderschüler in dieser Anstalt.
Wie gewohnt verließ ich den Wohnbereich des Gebäudes. Der schmale Korridor führte auf der Ostseite irgendwann zu den drei Klassenzimmer. Ein Raum war nur für die körperlich behinderten Schüler bestimmt. Die meisten von ihnen besaßen elektrische Rollstühle, um sich fortzubewegen oder die anderen waren missgebildet. In dem größten Zimmer wurden die Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren unterrichtet. Sie alle hatten eine Diagnose für eine psychische Krankheit. Diese Gruppe hatte ich die letzten Wochen besucht. Da diese Schüler meist reif und vernünftig genug waren, durfte jeder von ihnen ohne jegliche Begleitung beim Lernen selbstständig sein. Diese Freiheit hatte mir immer am meisten gefallen. Es gab keinen nervigen Erwachsenen, der ständig hinter einem stand und sein Senf dazugab. In dem letzten Klassenraum waren die Sonderschüler tagsüber untergebracht. Allein für sieben Leute waren vier Erzieher mit eingebunden.
Ich blieb vor der Holztür stehen. An das heutige Frühstück konnte ich mich gar nicht erinnern. Hatte ich denn überhaupt etwas gegessen? Die Aufregung in mir stieg. Was würde mich in diesen vier Wänden erwarten? Ich machte einen tiefen Atemzug und mit einer kurzen Bewegung drückte ich die Türklinke nach unten. Alle Augen waren auch mich gerichtet.
“Hi. Mein Name ist Delilah.”

© Leila C 2024-08-11

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Inspirierend