Schon als Kind war ich fasziniert von Geschichten. Meine Mama hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, indem sie mir jahrelang jeden Abend Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat. Der einzige Nachteil, den ich dabei fand, war, dass ich am liebsten die ganze Geschichte auf einmal gehört hätte, nicht nur ein, zwei Kapitel pro Abend. Unterbrechungen konnte ich nicht leiden. Aber natürlich musste ich ja irgendwann auch mal schlafen. Ich weiß noch, wie ich gesagt habe: „Ich lerne jetzt ganz schnell lesen und dann lese ich alle Bücher auf einmal durch“. Das war natürlich etwas überambitioniert, aber ich habe mich, sobald ich lesen gelernt hatte, tatsächlich zu einer sehr schnellen, motivierten Leserin entwickelt. Ich verschlang die Bücher regelrecht.
Lange Zeit konzentrierte ich mich dabei aber nur auf die tatsächlichen Geschichten. Textanalysen oder Hintergründe interessierten mich nicht, also schenkte ich ihnen keine Beachtung. Ebenso hatte ich mir bislang wenige Gedanken über die Rolle des Erzählers gemacht, sofern ich nicht im Rahmen des Deutschunterrichtes dazu gezwungen wurde. Entweder waren mir die Protagonisten sympathisch oder eben nicht. Ich hatte das nie hinterfragt, denn meistens lag es auf der Hand, warum mir eine Figur sympathisch war oder nicht. Doch dann las ich „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess und plötzlich änderte sich alles.
NĂĽchtern betrachtet ist die Handlung eigentlich eine Qual. Der Protagonist Alex pflastert seinen Lebensweg mit Gewalt, Brutalität, Zerstörung und RĂĽcksichtslosigkeit. Eine grauenerregende Szene jagt die nächste, die von Alex – direkt an den Leser gerichtet – im Detail beschrieben wird. Eine Horrorshow. Als Alex zur Rechenschaft gezogen wird und sich einem nicht minder brutalen Prozess unterziehen muss, sollte man denken, ein GefĂĽhl von Gerechtigkeit zu empfinden. Aber nein! Von Anfang an ist da diese Sympathie mit dem Protagonisten. Egal wie grausig seine Taten waren, irgendwie war ich immer auf Alex’ Seite. Trotz allem wollte ich, dass es gut fĂĽr ihn ausgeht.
Das hat mich schockiert. Ich war immer der Meinung, mit einem gesellschaftlich akzeptablen moralischen Kompass ausgestattet zu sein, doch während ich „A Clockwork Orange“ las, war ich mir da nicht mehr so sicher. Entsetzt über mich selbst, beschloss ich, etwas Recherche zu betreiben, um zu sehen, was es damit auf sich hatte und ob es möglicherweise anderen Menschen ähnlich ging wie mir. Und damit tauchte ich in die faszinierende Welt der Erzähltechnik ein. Ich erkannte, dass ein Buch so viel mehr sein kann als ein sympathischer Hauptcharakter und eine unterhaltsame Geschichte.
„A Clockwork Orange“ hat mir die Macht von Worten gezeigt, die Finesse der Erzähltechnik, die tausend Facetten und Möglichkeiten des Geschichtenerzählens. Den Einfluss des Erzählers. Die Wichtigkeit der Sprache. Es erweckte in mir eine Leidenschaft zum Detail, die mir zuvor verborgen war und mich nachhaltig verändert hat.
© Yvonne Schauer 2021-11-17