“Hilfe, Hilfe!”

Anatolie

by Anatolie

Story
1976 – 1979

Beim Lesen und Schreiben war ich immer schon recht flott. Sobald ich in der Schule lernte, wie man Buchstaben aneinanderreiht, schrieb ich kleine Info-Zettel, die ich dann mit Tixo an der Birke neben unserem Haus befestigte, damit auch jeder, der vorbeiging, gleich Bescheid wusste: „Hir spilen nur die braven Metchen! Die schlimen Buben komen da nicht herein wal die so vil Krawal machen!“ Ich weiß noch, wie meine Mutter den Zettel mit den vielen Rechtschreibfehlern fand.

Die häusliche Sperrzone für Buben blieb nicht allzu lange aufrecht, denn zu mir kam dann immer so ein Junge aus der nahen Maschinenfabriksiedlung, manchmal mit seinem jüngeren Bruder, meistens aber allein. Er war schon etwas älter, aber er baute leidenschaftlich gern mit mir Sandburgen und kein Zaun war ihm zu hoch um einfach darüberzukraxeln, weil mir die leuchtende Mohnblume in Nachbars Garten so gut gefiel. Was mir nicht gefiel, waren diese „Bussis“, feuchte Schmatzer, die er mir auf den Mund drückte, weil ich ja ‚seine Freundin‘ war. „Gell, wenn du groß bist, heiratest eh mich und nicht deinen Vati?“, sagte er öfters zu mir. Ich hatte mir als Kind einmal eingebildet, meinen Vater heiraten zu müssen. Da lief nämlich im Fernsehen so ein Werbespot, ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich sehe noch ein Mädchen, das strahlend zu seinem Vater hochblickt und sagt: „Wenn ich groß bin, heirate ich Papi!“ ER sagte aber auch weniger schöne Sachen zu mir, wie beispielsweise „Kusch!“. Meine Eltern wollten dann nicht mehr, dass ich ihm das Tor öffne. Ich hatte dann auch wirklich keinen Bock mehr auf ‚diesen Freund‘. Wenn er kam, versteckte ich mich. Meine Eltern hatten mir eingebläut, niemanden ins Haus zu lassen, wenn sie nicht da waren, und falls wirklich einmal jemand zudringlich werden sollte, laut um „Hilfe!“ zu schreien. Nun, einmal stand der Junge dann mit seinem Bruder mitten in unserem Hof und ich war ganz allein zu Haus. Die beiden trampelten im Garten alles nieder, sie bedrängten mein Meerschweinchen, das ich versuchte, schützend an mich zu drücken, während der große Lulatsch mit gespreizten Beinen vor mir stand. Irgendetwas Nasses tröpfelte von oben auf mich herab. „Hilfe!“, schrie ich, so laut ich konnte, dann rannte ich voller Panik ins Haus und rief meine Mutter bei der Arbeit an. Sie hat dann alles liegen und stehen lassen und ist nach Hause geeilt. Es war schlimm, sie so nah an einem Nervenzusammenbruch zu erleben.

Später sind meine Eltern mit mir zu den Eltern dieses Buben gegangen. Sie haben sie gefragt, was da eigentlich los sei. Ob sie ihre Kinder nicht ordentlich erzogen hätten? „Wir sind sehr gute Erzieher!“, rechtfertigen sich diese. Sie hießen den Großen an, auf sein Zimmer zu gehen. „Wir haben noch einen, der ist doch ganz brav, oder?“ Sie zeigten auf den Jüngeren, der etwas abseits saß. Ich nickte. „Hilfe-Schreierin!“, zischte er mir spöttelnd hinterher, als sie uns zur Tür hinauskomplimentierten. Für den Großen setzte es anschließend eine Tracht Prügel, noch auf der Straße konnte man seine Schreie hören. Und mir haben die Kinder am Spielplatz immer „Hilfe, Hilfe!“ nachgerufen, wenn sie mich sahen. Dieser „Name“ blieb mir noch lang!



© Anatolie 2025-05-20

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional
Hashtags