by SusiBock
Bisher genoss ich das Privileg, die einzige „Peckte“ in unserer Familie zu sein, und beanspruchte somit den solitären Status der Exotin für mich. Immerhin trage ich mein Peckerl schon mehr als 25 Jahre mit Stolz, denn es stammt aus einer Zeit vor den Arschgeweihen, vor dem Billig-Tattoo-Tourismus in die Slowakei und nach Tschechien (nichts gegen die Tattoo-Künstler!) und der großflächigen Körpermalerei, die nun ein Großteil der Menschheit zur Schau trägt.
Es stammt aus einer Zeit, als frau noch wagemutig in ein düsteres Kellerlokal in der Jagdgasse im 10. Wiener Gemeindebezirk gehen, sich vor wildfremden und ebenso wild dreinblickenden Männern freimachen musste, damit der wunderschöne Tigerkopf endlich auf meinem linken Schulterblatt Platz nehmen konnte.
Es stammt aus einer Zeit, als drei Stunden Schmerzen noch wohlfeile 2.000 Schilling gekostet haben und meine Oma dann wochenlang kein Wort mit mir gesprochen hat. Denn sowas machten ja nur Häfenbrüder und keine jungen Damen mit höherer Bildung, die am Gymnasium waren.
Die Zeiten haben sich Gott sei dank geändert. Mittlerweile fällt es eher auf, wenn jemand kein Tattoo hat. Und auch die Zielgruppe hat sich stark verändert. Seit unsere Seniorinnen und Senioren körperlich und geistig so fit sind, dass sie im hohen Alter nicht nur Marathons laufen und Fallschirmspringen, sondern auch nicht mehr das Internet löschen, sind sie nicht mehr aufzuhalten und machen sämtliche Trends mit.
Die heutigen Silver Surfer und Best Ager lassen sich in keine Schublade mehr stecken und entsprechen so gar nicht mehr dem Bild, das unsere Gesellschaft so viele Jahrzehnte von Pensionisten gehegt und gepflegt hat. Der wohlverdiente Ruhestand ist heute ein Unruhestand, eine erlebnisreiche und nicht mehr entbehrungsreiche Zeit, eine Zeit, um Konventionen zu brechen, neue Maßstäbe zu setzen, Versäumtes nachzuholen. Und das ist gut so!
Johann Wolfgang von Goethe hat einmal gesagt: „Ei, bin ich denn darum achtzig Jahre alt geworden, dass ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr, täglich etwas anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muss sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken.“ Wahre Worte, gelassen ausgesprochen und ihrer Zeit – um 1830 – weit voraus.
Und so hat mich also meine mittlerweile 78 Jahre alte Mutter kürzlich mit der Absicht überrascht, sich ein Tattoo machen zu lassen. Im ersten Augenblick war ich baff, im zweiten gerührt, denn sie will sich den Namenszug meines verstorbenen Papas tätowieren lassen.
Ja! Mama, bitte mach das. Ich bin stolz auf dich!
© SusiBock 2020-11-16