Anfangs konnte ich mit den Begriffen „Himmel“ und „Erde“, die im Qigong so grundlegend sind und aus dem Daoismus kommen, nur wenig anfangen. Diese Wörter erschienen mir wie aus dem Bilderbuch, fast ein wenig zu einfach, Kindersprache.
Auch die Übungen, in denen wir angewiesen wurden, den „Raum“ vor und hinter uns, den Raum links und rechts sowie auch oberhalb und unter uns zu „spüren“, befremdeten mich, faszinierten mich aber gleichzeitig. Diese Methode des körperlichen Spürens schien mir unbekannt — ich hatte oft über Begriffe wie „Bewusstsein“ und Geist nachgedacht, durchaus auch nachgespürt. Die Antwort auf meine wichtigste Frage „Wer bin ich?“ habe ich nie über den Körper gesucht. Er galt mir als etwas, über das ich hinausgehen wollte. Die daoistische Beschreibung des Menschen, der da so körperlich zwischen Himmel und Erde steht, schien zu meinem eher geistigen Ansatz nicht zu passen. Die Übungen auf dieser körperlichen Ebene fühlten sich dann auch anfangs sehr bemüht, aber irgendwie leer an. Bei meinem Nachsinnen darüber, wer ich bin und wie ich mich wahrnehme, hatte ich aber schon des Öfteren gespürt, dass meine Verbundenheit, etwa mit den Pflanzen im Garten oder mit der Natur rundum, bedeutete, dass ich in diesem Augenblick da draußen „war“, dass die Pflanzen in mir sind und ich bei den Pflanzen. Ich empfand meine Zuwendung zur Natur als eine Ausdehnung meines Bewusstseins, als Ausdehnung meines Inneren.
Und irgendwann wurde mir die „Übersetzung“ klar: Was in der Sprache des Qigong „Raum“ genannt wurde, bedeutete für mich das Erfahren meines sich ausdehnenden Seins oder Bewusstseins- und das erfahre ich tatsächlich als eine Art Räumlichkeit, die sich alles andere als leer anfühlt. Irgendwo las ich dann, dass jemand auf die Frage, wie er denn am liebsten sterben möchte, antwortete: „in freier Natur, mit meinem Blick in die Unendlichkeit des Himmels“. Als ich darüber nachspürte und mich in die äußere Unendlichkeit des Kosmos einfühlte, spüre ich, dass alles in diesem unendlichen Raum auch in mir ist. Es war auch eine Bewegung nach Außen, die mich beim Nachspüren über die Pflanzen oder die Natur letztlich nach Innen geführt hat.
Ich verstand: Dieser innere Raum ist der „Himmel“ der Qigong-Sprache, und die Erde ist nicht, wie das Bild anfangs nahezulegen schien, „unten“, sondern in meiner Begriffswelt „außen“. Außen und innen sind die Begriffe des Bewusstseins, oben und unten sind die Begriffe des Körperlich-Räumlichen. Beides ist letztlich nur Sprache, die quasi mit dem Finger auf das zeigt, was IST. Eine Antwort auf die bedeutungsvolle Frage „Wer bin ich?“ ist demnach: Ich bin die Wahrnehmende, die diese beiden Pole in sich vereint. Das bedeutet auch zu verstehen, dass das Leben „außen“ der Spiegel dessen ist, was „innen“ liegt. Ich lebe im Spiegel meines Inneren: Außen wird sichtbar, was innen schon immer ist. Das Hier, in dem ich jetzt bin und wahrnehme, ist der Kreuzungspunkt zwischen Innen und Außen, und dieser liegt jenseits des Räumlichen. Auch das Jetzt, das immer zwischen Vergangenheit und Zukunft zu liegen scheint, existiert nicht in der Zeit, sondern es ist immer während, ewig. Hier und jetzt bin ich.
© Angelika Guldt 2025-02-22