… höre ich eine leise Stimme, irgendwo aus dem sich stetig verfinsternden Wald, in dem wir gerade Pilze suchen. Früher Abend im späten Oktober, leiser Wind, lautes Laubgeraschel. Herbstlicher kann es nicht mehr riechen. Horst, das bin ich. Aber wem gehört das Stimmchen? Meiner Pilzsammelgefährtin und Gattin Gitti mit Sicherheit nicht, die hat ein ziemliches Organ. Oder spricht sie plötzlich, der mystischen Atmosphäre geschuldet, so leise, um die Geister des Waldes nicht zu stören? Wo ist sie überhaupt? Seit längerem habe ich den Kopf kaum gehoben, sondern auf dem dunkler werdenden Waldboden nach Pilzen Ausschau gehalten. Nun lasse ich den Blick schweifen. Schwarzgrün stehen die Bäume, weiß vereinen sich mein Atem und der Nebel. Hier und da leuchtet es aus dem Unterholz hervor, buntes Laub und Lampionblumen. Meine Ohren sind kalt. Schimmern auch sie rötlich durch den Herbstwald? Würde ich Gitti gerne fragen, aber die ist ja nicht da. Dafür erklingt wieder das Stimmchen. Diesmal kann ich es orten und vermeine, eine leise Angst herauszuhören. Sofort stapfe ich los, raschele an manchen Stellen beinahe knietief durchs Laub. Horst, Störenfried im Zauberwald.
Da! Weiß leuchtet es durch die Bäume hindurch, ich erkenne Gittis Gipsarm und die dazugehörige Frau. Doch irgendetwas ist seltsam. Sie steht ganz komisch da und bewegt sich nicht. Da ist etwas Großes neben ihr, dunkle Schwingen, glühende Augen, oh großer Gott, ein Waldgeist? Gittis Stimme, sehr leise, seeehr sanft: “Horst. Hilf mir! Schnell!”
Oh großer Gott. Auf ihrem abgewinkelten, steifen Gipsarm hat sich ein mächtiger Greifvogel niedergelassen! Ein Falke, wenn ich nicht irre. Der gebogene, messerscharfe Schnabel ist nur wenige Zentimeter von Gittis Gesicht entfernt. Er trippelt unsicher hin und her, ruckt den Kopf und blinzelt heftig. Ich tue es ihm nach. Gitti ist in Gefahr! Was mache ich jetzt?
„Hilf mir, ich kann ihn nicht mehr halten!“, wispert meine Frau mit panischem Unterton. Mit der gesunden Hand stützt sie den Gipsarm plus Tier. „Tu was!“ Ja, das habe ich vor. Aber was? Gitti wimmert leise. Der Vogel ist an ihrem Arm nach oben geklettert und beginnt, auf ihren Rucksack einzuhacken.
Was könnte er wollen? Mit langsamen Bewegungen nehme ich meinen eigenen Rucksack herunter und finde die Brotbox, darin auch Wurst und Käse. „Horst, schnell!“ Ich verstreue alles auf dem Waldboden. Und tatsächlich: Das Tier hüpft von Gitti herunter und macht sich über den Inhalt der Box her. Aus einiger Entfernung sehen wir zu, den Gipsarm so gut es geht zwischen uns versteckt. Dann trippelt der Falke hin und her. Warum fliegt er nicht los? Ist er verletzt? „Er kann nicht losfliegen, die Bäume stehen zu dicht“, vermutet Gitti. Von Hänsel und Gretel inspiriert, legen wir dem Vogel eine Spur aus Verpflegung, nun aus Gittis Rucksack und locken ihn so zu einer nahen Lichtung. Dort schwingt er sich in die Luft, kreischt noch einmal laut auf und verschmilzt mit der Nacht über dem Zauberwald.
© Selina Ströbele 2021-03-21