“Hühnerfrikassee”, gab ich schließlich zu. Was sollte ich sonst auch sagen?
Noch nicht sehr lange war ich in meine heutige Frau verliebt. Nur lebte sie damals am Bodensee und ich 200 km nördlich davon in der Nähe von Heidelberg. Wir hatten beide kein Auto. So waren Wochenendbesuche mit dem Zug die einzige aber durchaus romantische Möglichkeit, uns zu sehen und …
Tante Gertrud, die Patentante meiner geliebten Freundin, wohnte allerdings mit Onkel Horst und der Familie in der damaligen FormelEinsStadt Hockenheim. Mit dem Auto konnte man von der Rennstadt aus meine Wohnung in aller Gemütsruhe in etwa 15 Minuten erreichen.
An diesem Sonntag waren wir bei Tante Gertrud und Onkel Horst zum Mittagessen eingeladen. Ich war gespannt auf die Paten meiner Lisa und freute mich darauf, galt Tante Gertrud doch als eine sehr gute und gastfreundliche Köchin, die ihre Gäste zu verwöhnen verstand. Und Lisas Paten waren gespannt in welchen Kerl sich ihr Patenkind verliebt hatte.
Onkel Horst holte uns mit dem Auto ab, während Tante Gertrud das Mittagessen kochte. So rein gesprächstechnisch mussten wir zwei Männer, die sich bis dahin noch nie gesehen hatten, eine komplette Viertelstunde irgendwie zumindest teilweise füllen. FormelEins war vermutlich schnell erledigt. Ich weiß heute nicht mehr wie, auf jeden Fall sind bei unseren Lieblingsgerichten gelandet. Ich esse viele Dinge gern, wenigstens von den Gerichten, die ich kenne. Vielleicht habe ich sogar von meiner Vorliebe für Spätzle und Linzer Torte erzählt. Da wollte Onkel Horst von mir wissen, ob es etwas gibt, was ich überhaupt nicht gerne esse. Ich hatte Mühe, mir etwas einfallen zu lassen.
“Hühnerfrikassee”, gab ich schließlich zu. Ich hatte ein paar Mal in der Mensa der Universität Hühnerfrikassee gegessen. Jedes Mal hatte ich dabei auf Knorpel gebissen. Und jedes Mal hatte das einen unwiderstehlichen Brechreiz in mir ausgelöst. Die Erinnerung daran hat mich mein Geständnis wiederholen lassen: “Nein, Onkel Horst, Hühnerfrikassee ist nicht so mein Ding!”
Zu Hause angekommen, ist Onkel Horst unerwartet schnell in die Küche verschwunden. Von dort war für ein paar Minuten nichts zu hören. Dann kam Tante Gertrud, um mich zu begrüßen. Ich vermutete, die etwas angespannten Gesichtszüge waren einer Unsicherheit dem potenziellen Neuankömmling in der Familie gegenüber geschuldet. Aber schnell ließ sie die Katze aus dem Sack. “Theo, kann ich Dir noch schnell ein paar Nudeln und eine Soße machen? Tut mir leid! Ich habe Hühnerfrikassee mit Reis gekocht!”
Meine Versuche, Tante Gertrud zu sagen, dass ihr Hühnerfrikassee herrlich duftet und sehr lecker aussieht und dass mein Problem nicht das Hühnerfrikassee sei, sondern der eklige Knorpel im Mensaessen der Universität, hat sie an diesem Tag nicht im Geringsten überzeugt. Ich glaube, es hat Jahre gedauert, bis sie mir geglaubt hat, dass ihr Hühnerfrikassee ganz vorzüglich schmeckt.
© Theodor Leonhard 2024-03-19