I Das Brummen der Wespen

Valerie Kristin

by Valerie Kristin

Story
2024

Alles Menschliche ist verstummt, eine surreale Stille umgibt mich, die nicht richtig leise ist. Eher als befände ich mich in einem Vakuum, in dem der Mensch keinen Platz hat. Ausgefüllt wird die Luft dennoch von einem dröhnendem Lärm, als steckte mein Kopf in einem Wespennest. Der Klang ist dumpf, alles scheint fern, dabei saß ich eben noch auf der Couch bei der Psychologin. Ich blinzele, stelle fest, dass ich meinen Körper nicht spüre, nicht mehr sagen kann, ob ich überhaupt einen habe. Umrisse sind verschwommen, egal wie oft ich blinzele. Angst, ich sollte Angst haben und den Mund zum Schrei öffnen, sollte mich gegen diesen ungewohnten Zustand wehren, aber das will ich nicht. Endlich empfinde ich Ruhe, auch wenn in meinen Ohren ein Wespenschwarm brummt. Aber in diesem Augenblick bin ich frei, losgelöst von Raum und einem Körper, allein, aber nicht einsam.

“Thea. Thea!” Ein Geräusch dringt in das Vakuum und zerreißt die Barriere. Licht trifft auf meine Augen, bunte Farben verwirren mein Denken. Das Brummen verschwindet, stattdessen erreichen Klaviernoten, das leise Klicken der mechanischen Tastatur und das Hupen eines Autos meine Ohren. Ich spüre meinen Körper wieder, er ruht eingesunken auf der Couch, der Oberkörper vorgebeugt, der linke Arm liegt auf dem Tisch davor, die Finger umschließen etwas. Blinzelnd zwinge ich die Welt zurück in ihre Bahnen. Da sitzt die Psychologin, wir befinden uns in ihrem Patientenzimmer. Ich erinnere mich, ich habe einen Termin bei ihr.

“Du warst richtig weggetreten. Zeig mal, was du gezeichnet hast.” Erst jetzt bemerke ich den Stift in meiner Hand, weitere liegen verstreut und in allen Farben leuchtend auf dem Couchtisch verteilt. Als ich sehe, was da auf dem Papier entstanden ist, schlucke ich. Ich will das Blatt verstecken, aber da greift Frau Dr. Kerz danach. “Wer ist sie?”, will sie wissen. “Ich weiß nicht”, antworte ich. Doch mein Herz donnert in meiner Brust, meine Haut kribbelt und ich kann den Blick nicht von den Augen nehmen, die mich vom Papier anstarren.

Ich kenne das Mädchen! Ihre Augen sehen auf meiner Zeichnung dunkel und fahl aus, aber in Wahrheit leuchten sie, denn in ihnen befinden sich Galaxien. Ihr Haar wirkt weiß, doch es sollte wie ein Diamant schimmern. Ihr Mund scheint immer schief zu grinsen und ihre Schneidezähne sind etwas länger als üblich. Sie ist schön und mutig, alles, was ich nicht bin. Spiegel, Drache, Kriegerin, ein Strom aus Worten, den ich mit ihr verbinde, und kein einziges kann ich erklären.

Hastig springe ich auf und reiße das Blatt an mich. “Ich muss gehen. Ich werde über das Bild nachdenken. Nächstes Mal, vielleicht weiß ich dann mehr.” Frau Dr. Kerz lässt mich gehen, ruft mir nur den nächsten Termin nach. Sie weiß, wann ein Gespräch sinnlos ist.

Wer ist dieses Mädchen und woher kenne ich sie? Bilder fluten meinen Kopf, leise höre ich das Brummen von Wespen und bin plötzlich nicht mehr sicher, ob ich noch da bin, meine Existenz steht ihn Frage, das Mädchen drängt sich in den Vordergrund, nimmt alles ein, verschlingt meine Welt.

© Valerie Kristin 2024-08-29

Genres
Science Fiction & Fantasy
Moods
Emotional