by Anja Kainz
Sorgen. Sorgen begleiten mich, egal wo ich bin, egal was ich tue. Sie sind immer da. Sie wachen über mich, wie furchteinflößende Wachhunde. Sie sind immer da. Manchmal sind sie etwas leiser und wandeln neben mir her wie Geister. Manchmal sind sie laut und liegen schwer auf mir wie ein zu vollgestopfter Wanderrucksack. Sie sind immer da und nähren sich aus sich selbst. “Ich kann das nicht tun, dabei kann so viel schiefgehen”, heißt es dann immer in meinem Kopf. “Das schaff’ ich nicht, ich kann nicht alleine reisen.” Aber ich habe es geschafft. Ich bin in einen Zug gestiegen, alleine. Ich war in einem fremden Land, alleine. Ich war aber nicht ganz alleine: meine Sorgen waren immer bei mir.
Sie haben mir viel erzählt und sorgten dafür, dass es nie leise war: außer einmal. Ich wollte das Meer sehen. Ich kletterte über kantige Klippen, aber nur dort, wo es sicher war, denn meine Sorgen wollten, dass ich sicher war. Ich wanderte neben dem Abhang entlang in Richtung Horizont. Es war dämmrig, aber ich wollte nicht umkehren. Meine Sorgen wollten das, aber ich wollte weitergehen. Ich wollte zum Meer gehen. Ich wollte meine Füße in den Sand stecken. Ich wollte die Kälte spüren, in der Hoffnung, dass sie meine Sorgen etwas leiser dreht. Ich ging so weit, bis ich zu einem Abgang kam. Er führte zu einer Bucht hinunter. Er war sehr steinig und steil. Ich hatte Angst. “Was wär, wenn ich stürze und niemand so schnell vorbeikommen würde, um mich zu retten?” Ich wartete. Aus einem Moment wurden zwei Momente. Ich starrte auf den Abgang hinunter. In der Ferne wartete das Meer.
Ich ließ alles zurück und kletterte mit meinem bloßen Körper, der Kleidung, die er trug und den Schuhen an meinen Füßen den steilen Hang hinunter. Ich war bereit meine Sorgen zu enttäuschen. Ich war bereit, es zu riskieren. Ich war bereit zu leben. Es war nicht schwer. Ich kletterte bis ganz nach vorne. Der Wellengang war stark. Das Meer hatte keine Sorgen. Es war mutig und frei. Seine Wellen brachen an den steinernen Felsen, als hätte es keine Angst, sich an ihnen zu verletzen. Auch wenn es das tat, es machte immer weiter, als würde es mit jeder Narbe leichter werden, als würde es keinen Lebenssinn mehr haben, wenn es sich nicht weiterhin einen Weg an das Festland bahnen könnte. Ich saß auf einem Felsen. Ich zog meine Schuhe aus und streckte meine Beine Richtung Wasser. Ich zögerte. Ich wusste nicht wie kalt das Meer sein würde. Aber es war nicht meine Entscheidung. Eine Welle erreichte meine Zehenspitzen. Das Meer wartet nicht. Die Kälte durchflutete meine Nervenbahnen. Die Härchen an meinen Armen richteten sich auf. “Fühlt es sich so an zu leben?” “Nein”, flüsterte das Meer. “So fühlt es sich an, zu fühlen”. Eine Träne rollte über meine Wange. Sie tropfte ins Meer, wo sie sich mit den anderen versöhnte. Es war leise in meinem Kopf. Ich hörte nur das Rauschen der Ewigkeit. Ich fühlte den Trost der Ewigkeit. Sie versprach mir, dass sie weiterhin ihre Wogen ans Land spülen werde. Sie versprach mir, dass es sicher war, die Kälte zu fühlen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen bin. Ich weiß nicht, wie viele Tränen ins Meer geflossen sind. Ich weiß nur, dass es irgendwann dunkel war und ich zurückging. Ich wollte das Meer sehen. Und meine Sorgen wollten das auch.
© Anja Kainz 2023-08-06