Ich wünsche mir…

Nadja Neubauer

by Nadja Neubauer

Story

Wenn ich heute in den Spiegel schaue, wundere ich mich über das, was ich sehe. Wer ist diese Frau, die mich aus dem Spiegel heraus anstarrt? Wieso schaut sie so ernst? Ist sie traurig? Ihr Blick ist leer. Da ist nichts Ungewöhnliches an ihr. Das ungewöhnlichste sind vielleicht noch die Narben an ihrem Handgelenk. Die Narben sind ein Ausdruck ihrer Leere. Ich wende den Blick ab.

Ich stehe vorm Spiegel und versuche mich zu erinnern, wie sich echte Freude anfühlt. Ich probiere ein Lachen. Es gelingt mir nicht. Und wenn es mir gelingt, fühle ich es nicht. Das Lachen bleibt oberflächlich. Es erreicht mich nicht in der Tiefe, da wo Freude entsteht. Echte Freude. Ich lasse die Mundwinkel wieder nach unten sinken. Das Lachen ist mir zu anstrengend. Im Spiegel gefriert es zu einer ausdruckslosen Maske.

Wenn ich im Spiegel die Narben sehe, scheinen sie weit weg, klein und nicht zu mir gehörend. Wenn ich den Blick vom Spiegel abwende, sehe ich den Schmerz, ohne ihn zu spüren. Ich frage mich, warum? Warum diese Narben, woher dieser Drang, sich selbst zu verletzen? Es ist wie eine Sucht. Ist der Gedanke einmal in meinem Kopf, kann ich ihn nicht lassen. Er bohrt sich fest und schreit nach Erlösung. Lass mich fliegen! Ich spüre nichts, wenn ich die Klinge nehme.

Auch beim Tanzen sehe ich im Spiegel eine Fremde. Sie bewegt sich zur Musik. Sie fühlt die Musik, ihre Bewegungen folgen dem Takt und der Melodie, dem Rhythmus der Musik. Sie tanzt wie sie es gelernt hat. Ihr Körper beherrscht die Bewegungen, er ist eins mit dem Beat. Doch sie fühlt diesen Körper nicht. Jede Bewegung ist Erinnerung, aber nicht Gegenwart. Hier vor dem Spiegel spürt sie sich nicht. Sie spürt keine ihrer Bewegungen. Eine leblose Puppe, die tanzt, aber nicht lacht. Ein Totentanz.

Wenn ich die Klinge in der Hand halte, denke ich nichts. Ich weiß, was kommt. Ich habe es schon oft getan. Es tut nicht mehr weh. Genau deshalb achte ich darauf, nicht zu tief zu schneiden. Nur ein schneller oberflächlicher Schnitt, der trotzdem wieder eine Narbe hinterlassen wird. Einmal habe ich tiefer geschnitten. Einfach so. Ich habe nichts gespürt; nur ein kurzes Schnappen, wie wenn man ein Gummiband durchtrennt.



Manchmal kommt es mir so vor, als wäre das alles nur ein Traum. Ich wache auf – und es ist gut. Meine Sorgen und Ängste haben sich in Luft aufgelöst. Stattdessen schwebe ich in dieser komischen Traumwelt, in der ich irgendwie nicht wirklich bin. Wenn ich die Augen aufschlage, habe ich noch einen Job, der mir Freude macht, der mich erfüllt. Ein Beruf, der zur Berufung wird. Stattdessen hasse ich alles. Ich verachte mich dafür, es so lange ausgehalten zu haben, nicht schon früher gegangen zu sein, als ich noch eine Chance hatte. Habe ich die jetzt nicht mehr? Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Eine Wahrheit, wo ich sonst nur Lügen sehe. Die Lügen, die mir diese Welt und ich mir selbst aufgetischt haben. Von wegen, wenn ich groß bin, werde ich fliegen!

© Nadja Neubauer 2025-02-05

Genres
Anthologies
Moods
Dunkel, Emotional, Traurig