III Zukunftsangst

Valerie Kristin

by Valerie Kristin

Story

Ich weiß nicht genau, wie ich hierhergekommen bin, aber ganz offensichtlich bin ich jetzt da. Meiner Mutter gegenüber, die den Mund verkniffen zusammengepresst hat. Sicherlich hat Dr. Kerz sie angerufen, sie ist der Grund, warum ich überhaupt zur Psychologin gehe. Jeden Mittwoch nach der Schule um 17 Uhr. Eine Stunde, in der ich erklären muss, dass es mir gut geht. Meine Vermutung: Meine Mutter hasst jede Woche, in der ich nichts erzähle, das ihren Fall stützt. Ein Scheidungskrieg ist eine hässliche Sache, es gibt keine Gewinner, nur Verlierer. Mein Vater ist nicht besser, er hofft, dass ich etwas Kompromittierendes während der Stunde sage. Ich bin sechzehn Jahre alt und da ich mich für keine Seite entscheiden will, sitze ich jede Woche bei einem anderen Elternteil, das enttäuscht ist.

“Frau Dr. Kerz sagt, du bist heute aus der Stunde hinausgerannt. Ein Bild war der Auslöser”, sagt meine Mutter und schnieft dabei unzufrieden. Ich bin froh, dass ich das Papier weggeschmissen habe. Ich brauche es nicht, um mich an das Mädchen zu erinnern, sie ist in mein Gehirn gebrannt.

“Kann sein. Ich war aufgebracht.” Meine Antwort klingt fahl. Ich weiß, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollen und dennoch ziehen sie mich in ihren Streit hinein, sie machen mich zu ihrem Werkzeug, in der Hoffnung, durch mich den anderen zu verletzen, da es mit bloßen Worten nicht funktioniert.

“Wir schicken dich zu Dr. Kerz, weil wir wollen, dass es dir gut geht. Du bist so sensibel”, sagt meine Mutter und greift nach meinen Händen. Plötzlich ist es wieder “wir”, obwohl das seit einigen Monaten nicht mehr existiert. Ich murmele irgendetwas, dass ich das wüsste, obwohl ich nichts weiß. Es gibt nur noch zwei Wahrheiten in meinem Leben: Das Mädchen und dass ich meine Eltern liebe, wodurch ich sie nur enttäuschen kann. Sie hätten so gerne, dass ich mich für eine Seite entscheide.

“Mir ist klar, dass die Situation für dich schwierig ist. Aber du musst mir glauben, dass ich nur das Beste für dich will. Du bist auf so einem guten Weg, du machst dich so gut, aber du darfst jetzt nicht lockerlassen.” Sie wringt die Hände, ihre Augen blicken traurig. Ich kann hören, was sie nicht sagt: du hattest letztes Jahr bessere Noten, du hast zugenommen, deine Freunde sind weniger geworden, warum versteifst du dich auf den Tanz? Ich sage nichts zu ihrer Ansprache, genau sowenig antworte ich auf die unausgesprochenen Fragen. Ich werde es ihr nie wieder recht machen können. Außerdem ist jetzt sowieso die Antwort auf jede meiner Fehler “Scheidung”. Weder meine Mutter noch mein Vater wissen von meiner beendeten Beziehung mit einem Mädchen, keiner weiß, dass die Mädchen beim Ballett an Bulimie leiden oder dass mir die Zukunft, ganz unabhängig von ihrer Beziehung, Angst macht. Die Lehrer beginnen, von Berufen und Lebenszielen zu sprechen, meine Eltern erwarten ein Jura- oder Medizinstudium, eben etwas, von dem man seinen Freunden stolz berichten kann. Nur dass es mein Leben ist, das ich nicht plane, das von anderen bestimmt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr Angst vor den Erwartungen habe oder davon, mein Leben zu bestimmen. Das Brummen des Wespennests wird lauter.

© Valerie Kristin 2024-08-29

Genres
Science Fiction & Fantasy
Moods
Reflektierend