Im nächsten Leben

Moritz Gerlach

by Moritz Gerlach

Story

“Ich komme gleich nach.”
“Hm? Warum?”
“Die Sterne sind hier viel schöner als zuhause. Weniger Beleuchtung und so Zeug.”
“Kommst du klar?”
“Ja, alles okay. Geht ruhig vor. Nur fünf Minuten.”
“Okay, gut. Ruf an, wenn du was brauchst.”

Als die anderen endlich weg sind, lege ich mich hin. Es ist eine warme Frühlingsnacht, die Jacke über meinem Kleid ist zu warm, aber ich bleibe einfach liegen, weil die Sterne viel zu schön dafür sind, wegzugucken. In der Stadt sieht man sie nicht mehr wirklich, nur noch ein großes Schwarz mit wenigen einzelnen hellen Punkten am Himmel, wenn es Nacht wird. An unseren Ausflügen hat sie immer nur ein Auge für den Himmel gehabt. Tatsächlich habe ich mich nie groß für Sterne interessiert, bis sie mir all diese sinnlosen Sachen erzält hat, mit einer Begeisterung, die ansteckender war als ein Gähnen. Alles war dabei, solange es nicht von diesem Planeten kommt (oder ihn schon einmal verlassen hat. Zum Beispiel: Das schnellste von Menschen geschaffene Objekt war für über 60 Jahre lang, bis 2021, ein Gullideckel, der bei einem Test von Nuklearwaffen ins All geschossen wurde.)
Aber vor allem über einen Gedanken philosophiere ich bis heute noch; ich höre ihn, als würde sie neben mir sitzen und ihn zum ersten Mal sagen.
“Expert:innen sagen dass, wenn das Universum unendlich ist, irgendwo da draußen ein Planet existieren muss, auf dem Lebensformen in genau der selben Situation, mit genau der selben Geschichte leben, wie wir jetzt gerade.”
In dem Moment habe ich mich zu ihr gelehnt und sie geküsst. Ich habe wahrscheinlich etwas dummes gesagt, etwas wie “Dann wünsche ich den beiden jetzt viel Spaß”. Etwas, was ich nie sagen würde, wenn ich noch einmal Zeit mit ihr hätte.
ich schaue noch einmal nach oben. Ich suche den Himmel ab, jeden Stern, den ich sehen kann.
“Es gibt gar nicht mehr Sterne im Universum, als Sandkörner auf der Erde. Das ist nur ein Mythos. Es sind trotzdem verdammt viele!”
Ich finde einen Stern, der ganz schwach zwischen drei anderen leuchtet. Ich stelle mir vor, ich würde dort sein und wirklich jemanden sehen, der gerade in der selben Situation ist, wie ich. Mit den selben Erinnerungen and Fakten über das Universum, and Nächte auf einer Wiese, oder am Strand. Und daran, wie daraus plötzlich Nächte im Krankenhaus wurden. Und schließlich, wie diese Lebensform so daliegt, wie ich jetzt gerade.
Auf einem Friedhof, nach einer Beerdigung und in die Richtung meines Sterns guckt und sich dankbar dem Gefühlt hingibt, nicht alleine mit dem Schmerz zu sein. Nicht die einzige zu sein, die heute in eine Wohnung kommt, in der die meisten Bilder abgehangen wurden, weil sie erst Liebe, dann Schmerz, dann Wut bringen. Wut auf einen grausamen Gott, den es zweimal gibt. Oder auf ein Schicksal, dass zu unkreativ ist, um mich und meine weit entfernte Leidensgenossin glücklich sein zu lassen.
Und auch sie wird dann wissen, dass wütend sein nichts bringt. Auch sie wird wissen, dass das einzige, was sie machen kann, sich in den Schlaf weinen ist, weil wir niemanden haben, nur einander, bis wir sterben.
Und dann, im nächsten Leben, werden wir vielleicht wieder jemanden lieben können.

© Moritz Gerlach 2023-08-22

Genres
Novels & Stories