Eine Mischung aus Schweiß, Urin sowie anderen Ausscheidungen, Parfümwolken und ein Hauch von Essensgerüchen: inmitten dieses Duftgewitters sitze ich auf meinem Reisekoffer und warte. Vor mir steht ein weiß-blauer Rucksack, aus welchem eine Wasserflasche hervorlugt und leise flüstert: Trink mich! Dem Befehl Folge leistend nehme ich die rote Falsche, führe sie zum Mund und trinke ein oder zwei Schlücke, wobei das Wasser fahl und abgestanden schmeckt. Die Frau vor mir schaut mich kritisch durch ihre zu klein geratene Hornbrille an. An sich wirkt sie wie eine freundliche Person, ohne böse Absichten. Doch vielleicht bin ich es auch, mein Gesicht mit der krummen Nase oder die Art wie ich sitze, der in den Leuten die Skepsis weckt. Einen inneren Urinstinkt, welcher sie vor mir warnt. Achtung! So werfen die Menschen um mich herum und ich uns Blicke zu. Misstrauen gegen erzwungene Freundlichkeit.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich den Blicken ausgesetzt bin, langweilt mich ihr Ausdruck. Mein Kopf dreht sich mühsam nach hinten und meine Augen wandern auf eine Anzeigetafel: noch eine gute halbe Stunde. Noch eine halbe Stunde Skepsisgewitter. Ich bin es gewohnt in diesem Regen zu stehen; ohne schützenden Schirm.
Als sich mein Blick wieder nach vorne wendet, entdecke ich eine junge Frau. Sie ist bestimmt ein paar Jahre älter als ich und hält in der einen Hand eine zylindrische Sporttasche. Nach ein paar Minuten stellt sie die Tasche ab und mir fällt auf, dass ich sie die ganze Zeit angestarrt habe. Eine meiner schlechten Angewohnheiten. Mich hastig abwendend, versuche ich möglichst unauffällig zu wirken.
Etwas später, wahrscheinlich nur einige Sekunden, riskiere ich es erneut. Sie hockt vor ihrer Tasche und greift nach einer Trinkflasche. Diese hatte ihr wahrscheinlich auch zugerufen: Trink mich! Aber blau. Rot und Blau als Komplementärfarben; ob das ein Zeichen ist. Als sie aus der Flasche trinkt, fließt ein kleines Rinnsal aus ihrem Mund und tropft auf den Boden. Ein weinender Mund. Hektisch wischt sie die Tränen weg und schaut sich eilig um. Es soll keiner sehen. Dabei erblickt sie mich, wie ich sie anstarre. Ebenso hektisch wie sie, wende ich meine Augen ab, wobei ich ein Grinsen nicht unterdrücken kann. Es ist nicht boshaft gemeint. Jedoch weiß ich nicht, ob das irgendwer verstehen würde.
Um weiteren unangenehmen Blickwechseln aus dem Weg zugehen, erhebe ich mich, schnappe mir meinen Rucksack und fliehe. Schnurrstracks an ihr vorbei, wobei ich mich nicht traue, sie nochmals anzuschauen. In ausreichender Entfernung bleibe ich stehen und warte weiter.
–
Ein Zug fährt langsam in den Hamburger Hauptbahnhof ein, während sich an Gleis 14 ein Junge aufrafft und einsteigt; stark darauf bedacht, sich nicht umzusehen. Nur ein paar Meter entfernt, jedoch durch die Menschenmassen abgeschottet, steigt eine junge Frau ein. Dabei fällt ihr ein Schirm aus der Sporttasche und landet zwischen Gleis und Schienen im Abgrund.
© Lukas Nünnerich 2021-06-22