Imaginäre Geschwisterliebe

Ulrike Puckmayr-Pfeifer

by Ulrike Puckmayr-Pfeifer

Story
Podersdorf am See 1959 – 1967

Ich bin ein Einzelkind. Zumindest bin ich so aufgewachsen. Einsam und ziemlich viel allein. Sehnsuchtsvoll habe ich mir Geschwister gewünscht. Die anderen Kinder habe ich beneidet, die von Geschwistern umgeben waren.

Es war eine traurige Kindheit. Und die Langeweile war mein ständiger Begleiter.

Eines Tages kam ich auf den Friedhof. Mit meiner Mutter oder mit meiner Großmutter, so genau weiß ich das nicht mehr.

Da sah ich ein kleines Grab mit einem schlichten Holzkreuz. Neugierig wollte ich mehr darüber erfahren.

Da drinnen würde mein Bruder liegen, sagte man mir. Er wäre zu früh auf die Welt gekommen. Nur zwei Tage wäre er alt geworden und dann gestorben. Fünf Jahre vor meiner Geburt wäre das gewesen. Wahnsinn! Da hätte ich einen älteren Bruder gehabt, wenn er am Leben geblieben wäre. Ich begann ihn sofort zu lieben und in mein Herz zu schließen. Gleichzeitig spürte ich eine tiefe Trauer in mir über seine Nicht-Anwesenheit und die scheinbar verpasste Geschwisterliebe.

Ich stellte mir vor, wie schön mein Leben wäre, an der beschützenden Seite eines älteren Bruders aufwachsen zu dürfen. Es gäbe keine Langeweile mehr. Die Tage wären ausgefüllt mit schönen Spielen.

Da war der Traum und da war die Wirklichkeit. Ein Bruder, der nicht lebte, der tot im Grab lag, mit dem man nicht spielen konnte, von dessen gewesener Existenz nur Geschichten und ein kleines Grab zeugten.

Auf dem Grab hatte man Blumen gepflanzt. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war, an heißen Sommertagen dieses kleine Grab mit dem weißen Holzkreuz zu besuchen und die Blumen zu gießen. Und ein bisschen von diesem Bruder, den ich gerne gehabt hätte, zu träumen.

Erst später, im Erwachsenenalter, begriff ich, dass es mich und meinen Bruder in dieser Form von Geschwisterlichkeit nie gegeben hätte.

Meine Eltern waren schon älter und wollten nur ein Kind. Wenn mein Bruder überlebt hätte, wäre das Ziel erreicht gewesen und weitere Bemühungen wären eingestellt worden.

Und der Gedanke, dass der Tod meines Bruders meine Existenz oder Inkarnation erst ermöglichte, tauchte auf.

© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2025-02-05

Genres
Biographies
Moods
Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags