by Martina Süss
Ihr wisst es vielleicht nicht, doch es gibt einen Traum, den jedes Kind auf der Welt einmal träumt. Ihr habt es wahrscheinlich vergessen, wie man Kindheitsträume eben vergisst. In diesem Traum regiert ein Wesen, das kommt aus einem entfernten Land voller Wunder. Jacko, der Realitätsverschlinger. Die Fabelwesenschaft ist sich uneinig darüber, ob dieses Wunderwesen ein Produkt kindlicher Fantasie ist oder umgekehrt. Forscher der Fabelwesenschaft haben erst kürzlich die Theorie untersucht, nach welcher Jacko in dem Traum eines kleinen Prinzen erschaffen wurde.
Um Jacko weht immer ein Windhauch. Windhauch, Windhauch, alles Windhauch. Wofür strengt sich der Mensch an unter der Sonne? Mit diesen Worten taucht er ein in der Kinder Köpfe, denn nur sie können diese Frage beantworten. Die Erwachsenen verstehen sie erst gar nicht. Im Traume zieht Jacko die Realität von der Welt ab, wie eine Folie. Das Erste, was dem Träumenden auffällt, ist das Fehlen von Wochentagen. Jacko hält es nämlich für eine Absurdität Tagen den immerselben Namen zu geben. Das Gedankenlesen scheint dort so einfach zu erlernen zu sein, wie das Lesen, bloß, dass man dazu keine Worte mehr gebraucht.
Ist die Realität einmal verschlungen, erzählt Jacko Geschichten. Über die Berge und die Wolken. Er erzählt sie nicht, um etwas zu erklären – seine Geschichten bringen die Welt in eine Form, vor welcher die Kinder keine Angst haben müssen, sie machen das Leben zu etwas, von dem man zumindest eine Idee hat. Denn wie beängstigend sind die Ränder der Welt, die Größe des Universums, die Allmacht Gottes, die vielen Fragen, die die großen Leute vielleicht nur falsch gestellt haben. Jacko erzählt, dass die Berge so hoch sind, weil sie gerne mit den Wolken befreundet sein wollen und als Nebel besuchen die Wolken auch die kleinen Berge. Wir haben nur unsere Fantasie und ihre Grenzen mögen Raum und Zeit sein, aber dieses Fabelwesen zeigt seinen Träumern, wie viel es dazwischen auszudenken gibt. Wenn man Mensch ist, ist man Mensch eben mit all seinen Grenzen. Aber wie viele Möglichkeiten kann man sich ausdenken, warum man Mensch ist.
Jacko erzählt Geschichten, weil es das Schönste ist, was dem Menschen gegeben ist. Weil die Vorstellung, wie kleine Hügel sich hinaufrecken auf der Suche nach Freundschaft für einen Moment Frieden schenkt. Nicht weil er etwas erklärt oder für wahr erklärt, sondern weil er sich freut an seiner Kraft zu erfinden und vorzustellen – ist die Realität einmal fort, kann alles Wirklichkeit sein. Vielleicht weiß jemand bestimmt, wie die Berge entstanden sind. Aber das ist nicht so wichtig. Wenn ich die Berge sehe, edel und still, dann kann ich die Augen schließen und spüren, wie viel Kraft ihre Geburt innehatte. Und wie froh ihre Gestalt mich macht. Und wenn ein Kind die Wolken in ihren Gipfeln hängen sieht, dann kann es lächeln.
Danke, Jacko.
© Martina Süss 2021-08-15