Ich weiß es.
Wir alle wissen es.
Trotzdem tun wir oft so, als hätten wir keine Ahnung.
Das Leben ist endlich. Früher oder später wird für jede und jeden von uns der Moment des Gehens kommen. Bis dahin will ich lebendig sein, mich und das Leben spüren. Ich möchte mich nicht im Irrgarten aus Verpflichtungen und Erwartungen verlaufen. Ich möchte nicht die vielen angeblich so wichtigen Dinge erledigt wissen, bevor ich endlich dazu komme, das Geschenk des Lebens zu genießen. Vielleicht ist es dann schon zu spät. Ich möchte am Ende nicht feststellen müssen, dass ich Erfahrungen, die ich so gerne machen wollte, nicht sammeln konnte. Ich will nichts bereuen. Am Ende möchte ich nicht sagen müssen: „Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich…“ Stattdessen will ich dann stolz und mit fester Stimme verlauten: „Als ich jung war, da hab ich …!“
Warum nicht jetzt?
Es gibt für vieles keinen besseren Zeitpunkt. Bei mir war es eine dunkle Mischung aus Krankheit, Schicksal und Verlust, die den Drang nach dem Leben so unbändig macht. Für mich hat es die schmerzhaften Erfahrungen gebraucht. Erst jetzt schaffe ich es immer öfter, meinen Blick auf das zu richten, was ich gerne sehen möchte. Auf die lieben Menschen um mich herum, die mich zum Lachen bringen und Freude in mein Leben. Auf den wärmenden Sonnenstrahl, der meine Nase kitzelt. Auf den Augenblick der Ruhe, in dem ich still meine Töchter beobachte.
Auch ich kenne die innere Stimme, wenn sie sagt: „Ja eh, aber…“, und die mir unzählige Dinge einzureden versucht, die erledigt gehören. Dann schalte ich Musik ein, um sie zu übertönen. Dazu singend und schwingend verstummt die Stimme. Versagt dieses Vorgehen, dann beame ich mich in Gedanken in die schwierigsten Zeiten zurück. In die Zeiten, in denen nicht klar war, ob das Leben für meine Liebsten und mich weitergeht. Noch gut in Erinnerung habe ich den ersten Sommer mit unserer jüngeren Tochter: Chaos im Haushalt, Schlafmangel, keinen Plan davon, wie ich zwei Kindern jemals gerecht werden kann, Windeln, kleinkindgerechte Nahrung für die Ältere, Neonachsorgeprogramm für die Jüngere, mein Mann in der Arbeit. Das komplette Durcheinander. In der ersten Situation, als beide Töchter gleichzeitig aus Leibeskräften brüllten und kurz bevor mein Puls drohte, in lebensgefährliche Höhen abzudriften, war mein einziger Gedanke: „Was für ein Glück! Wir haben zwei Kinder, die schreien können!“
Aussteigen. Innehalten. Das sich ewig drehende Rad anhalten. Dingen nicht mehr Bedeutung beimessen, als sie haben dürfen. Dafür anderen Dingen mehr Platz schenken. Auf das schauen, was Freude bringt. Machen, was guttut – auch ohne Grund und einfach so. Tanzen. Lachen. Feiern. Jetzt. Nicht irgendwann, später, wenn ich dafür Zeit habe. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um zu leben.
© Teresa Kaiser-Schaffer 2020-08-14