by Tom Kanitz
“Wohin des Weges?” Des Weges? Ich möchte auf dieses Schiff. “Auf dieses Schiff? Um an Bord dieses Schiffes zu gelangen, müsst Ihr ein Oneironaut sein.” Ein was? “Ein Oneironaut.” Was ist das?
“Oneironauten vermögen es, die See der Träume zu befahren. Allen Gefahren, Widrigkeiten, Schönheiten und Wundern zum Trotz, durchschauen sie doch die Essenz dieses Ortes klar und deutlich. Um mit uns zu fahren, mit der Oneiros durch die Fluten des Geistes zu segeln, müsst Ihr Oneironaut sein. Seid Ihr das?”
Ich … Ich weiß, dass ich träume. Ein Ort wie dieser existiert in der Realität nicht. “Tatsächlich? Also wart Ihr in Eurer Realität schon überall und wisst genau, dass es einen solchen Ort nicht gibt?” Nicht … überall. “Dafür scheint Ihr Euch sehr sicher zu sein. Ihr sagt also auch, dass ich nicht existiere.” Nun, wer seid Ihr denn? “Ich bin Jason. Und ich rufe die begabtesten aller Oneironauten zusammen, um die Geheimnisse der Träume zu ergründen.”
Jason? Der sagenumwobene Jason, der mit den Argonauten das Goldene Vlies geraubt hat? “Ihr wisst viel von Dingen, die laut Euch nicht passiert sind. Doch möglicherweise seid Ihr für mich auch nicht passiert.” Und diese geisterhaften Silhouetten auf dem Schiff, ist das Eure Mannschaft? Wie können körperlose Schemen rudern und segeln? “Wie könnt Ihr es? Oder habt Ihr es schon getan?” Nein, doch ich habe Arme und Beine. “Und wo sind sie?”
Ich weiß nicht. Ich fühle mich so leicht. Und flüchtig. “Meine Besatzung hat den Zyklus vieler Formen durchlaufen. Jeder Oneironaut findet die eigene Form und die Erfahrensten streifen sie irgendwann wieder ab, um zurückzukehren zum Ursprung, von dem aus jede Gestalt angenommen werden kann. Doch Ihr, Ihr habt noch nicht einmal den Ursprung verlassen. Deswegen könnt Ihr kein Oneironaut sein.” Weshalb seid Ihr dann so klar zu sehen? “Ich zeige mich als das, was Ihr in mir sehen wollt. Und weil Ihr mich als mich seht – und dies nicht zu ändern vermögt – könnt Ihr nicht mit uns kommen.”
Ich bitte Euch. Bitte, lasst mich mit Euch fahren, Jason. So gern möchte ich an Bord sein. So, so gern. “Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Unsere Reise ist so annehmlich wie beschwerlich. Nie endend. Früh genug werdet Ihr mit uns fahren. Ein jeder muss das tun.” Ihr sprecht in Rätseln. “Deren Verständnis Euch noch gewahr werden wird.”
Doch was soll ich nun tun? Hier, allein, inmitten der Verlorenheit der See der Träume? “Nun, Ihr solltet wissen, worauf Ihr fahren wollt, ehe Ihr es tut. Taucht hinab. Findet, was Euch den Weg weisen kann. Wohin auch immer er Euch führen mag.
Jason, ich gehe unter! Ihr werdet kleiner! Ich sehe Euch kaum noch! Die See verschluckt mich! Könnt Ihr meine Stimme noch hören?
“Ich höre Euch. Ein Oneironaut hört jede Stimme, die sich in die Träume verirrt. Lasst Euch gezielt treiben und Ihr werdet finden, wonach Ihr sucht. Geht nun Euren Weg und gehabt Euch wohl. Auf das unsere Wege sich wieder kreuzen werden, wenn Ihr bereit seid, mit uns zu fahren.”
© Tom Kanitz 2022-05-09