by Silvia
Jede Nacht wache ich zur gleichen Zeit auf, ohne Wecker, besser gehts eigentlich nicht. Ich wage kaum ein Auge zu öffnen. Fast auf die Minute genau weiß ich, wie spät es ist, der Wecker zeigt 03:10, meine innere Uhr funktioniert offensichtlich perfekt. Ich wälze mich herum, mein Körper ist todmüde, mein Kopf hingegen hellwach. Meine Gedanken rasen in irrem Tempo herum, zwischen den wachsenden Arbeitsbergen, Beziehungsproblemen, unzähligen Alltagsterminen und dem endlos langen Arbeitsweg. Wo, um Himmels willen, ist das Stoppschild? Entspannung wäre dringend nötig, eine Auszeit von dieser oberflächlichen, rauen Welt. Doch dieser Luxus wird schnell auf später verschoben. Das Gedankenkarussell dreht sich immer schneller, im Höllentempo gehts von einer Aufgabe zur nächsten. Mir wird schwindlig und schlecht. Dabei bin ich als Kind so gern Karussell gefahren. Aber jetzt ist alles anders, keine Zeit für Spaß, nur mehr Verpflichtungen. Ich versuche mich zu beruhigen. Wie war das mit Schäfchen zählen und meditieren? Oder beten? Nichts hilft. Ein hoffnungsloser Fall. Mir ist das schon länger klar. Meine größte Sorge ist nur, dass das bald auch andere bemerken. Das muss ich um jeden Preis verhindern. Ich werde meine Augenringe besser abdecken und lächeln. Obwohl ich bei jeder neuen E-Mail den Tränen nahe bin, ich starre auf die Worte. Was, in aller Welt, möchte der Absender von mir? Komplette Überforderung, nur mehr Leere im Kopf. Mit wem kann ich über all das reden? Wer versteht das schon? Dabei ist mir nicht mal selbst bewusst, was mein Problem ist. Nicht nachdenken, lieber verdrängen und weitermachen wie bisher. Meine bewährte Strategie schon seit langem. Langsam schwanke ich Richtung Küche, jeder Schritt mühsamer als der vorige, als würde ich eine tonnenschwere Last schleppen. Die Minuten kriechen dahin, noch immer stockdunkle Nacht. Stille. Die Stille, nach der ich mich im Alltag so sehr sehne, erdrückt mich jetzt. Meine Beine zittern wie Wackelpudding, in Zeitlupe sinke ich zu Boden. Verzweiflung und Erschöpfung überrollen mich wie eine gigantische Lawine. Wäre ich doch nur unter einer echten Lawine begraben, dann wäre bald alles vorbei. Ruhe. Ein Gedanke wie eine Erlösung, ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten, eine Sturzflut an Traurigkeit bahnt sich ihren Weg. Ich weiß doch genau, was ich will, aber mein verdammter Körper spielt nicht mit. Ich fühle mich hilflos ausgeliefert, habe eine solche Wut auf meinen schwachen, schmerzendem Körper, der mich jeden Tag mehr im Stich lässt. Mein ganzes Leben gerät ins Wanken, wie ein Kartenhaus im aufkommenden Sturm. Nur einen kleinen Windhauch entfernt vom endgültigen Zusammenbruch. Mein Zeitgefühl ist verloren gegangen, wie in Trance liege ich da, zusammengekrümmt am kalten Küchenboden. Langsam versiegen die Tränen, zurück bleibt nur ein Gefühl von gähnender Leere. Zwischen all dem Vakuum in meinem Kopf bahnt sich ein winzig kleiner Gedanke seinen Weg. Keine Chance ihn zu ignorieren, hartnäckig fordert er Aufmerksamkeit. Ich möchte nicht mehr nur existieren, sondern endlich wieder leben. Jetzt! Jetzt ist der Zeitpunkt um das zu machen, wofür mein Herz wirklich brennt. Ich sehe ganz klar wohin, mein Weg führt. Ein Gefühl der Freude und Ruhe breitet sich aus, eine wohlige Wärme von den Haarspitzen bis in den großen Zeh. Ich gehe ins Kloster.
© Silvia 2024-09-23