Von Beginn an war es fraglich, warum die griechische Sage um Ădipus so polarisierend war, oder es immer noch ist. Wir alle können uns recht gut daran erinnern, wie er weggegeben wurde, spĂ€ter seinen Vater getötet hat (ohne es zu wissen), das RĂ€tsel der Sphinx gelöst hat, König von Theben wurde und seine Mutter heiratete. Und wer sich an das RĂ€tsel der Sphinx nicht erinnern kann, hat jetzt einen Vorteil, denn um ehrlich zu sein, hat sich alles ganz anders zugetragen.
Wir befinden uns bei Theben, vor einer Höhle, die von einer Sphinx bewohnt wird. WĂ€hrend Ădipus auf das Erscheinen der Sphinx wartet, geht er noch einmal alle Grundrechenarten durch und versucht sich an alle Götter zu erinnern, die da ĂŒber ihn wachen. Ein leises Kratzen lĂ€sst Ădipus aufhören, aber es ist nur ein kleiner Vogel, der neben ihm mit den FĂŒĂen nach WĂŒrmern scharrt. Ădipus versinkt wieder in seinem Wiederholungsprozess, den alle Studenten kennen dĂŒrfte. Auf einmal waren schwere Pfoten zu hören und die Erde fing ein wenig an sich zu bewegen. Eine Katze so groĂ wie ein Triceratops, mit einem menschlichen Gesicht und FlĂŒgeln auf dem RĂŒcken, kam aus dem Schatten der Höhle zum Vorschein. Ădipus war beeindruckt. Denn selbst in diesen Zeiten begegnet man nicht alle Tage solch einem Geschöpf. Wie die Regeln es verlangen, verneigte Ădipus sich und begrĂŒĂte die Sphinx. âGuten Morgen, ehrwĂŒrdige Sphinx! Ich hoffe, mein frĂŒhes Erscheinen bereitet keine MĂŒhenâ, sagte er. âGuten Morgen, Menschlein. Euer frĂŒhes Auftauchen ist kein Problem, aber wenn wir uns beeilen könnten? Der Kaffee drĂŒcktâ, entgegnete die Sphinx. âNatĂŒrlich!â, rief Ădipus, der den Vorschlag bestens verstehen konnte. âNun denn. Dir ist bewusst, dass du König von Theben wirst und ich eine andere Stadt terrorisiere, wenn du das RĂ€tsel löst?â, fragte die Sphinx im besten Beamten-griechisch. âNatĂŒrlichâ, antwortete Ădipus. âDir ist auch bewusst, dass du stirbst, wenn du das RĂ€tsel nicht löst?â, fragte die Sphinx hinterlistig. âIch habe ohnehin nichts zu verlierenâ, antwortete Ădipus lĂ€ssig. âDann mal los, hier kommt das RĂ€tsel: Es ist am Morgen vierfĂŒĂig, am Mittag zweifĂŒĂig und am Abend dreifĂŒĂig. Aber wenn es die meisten FĂŒĂe hat, besitzt es am wenigsten Kraft.â Damit hat Ădipus nicht gerechnet. âDu meinst bestimmt den Menschenâ, sagte er allerdings bewusst. Die Augen der Sphinx wurden groĂ. âBist du denn vom Blitz getroffen worden? So eine dumme Antwort habe ich ja noch nie gehört!â, rief sie aus. âBei den Göttern, was ein Schwachsinn. Der Mensch?!â, meckerte sie ihn an. âDu glaubst, ich könnte den Menschen nicht komplexer beschreiben? Du glaubst, der Mensch sei so einfach in ein RĂ€tsel zu packen? Ich glaube es einfach nicht. WeiĂt du was? Ich fresse dich nicht einmal, auch wenn es eine Erlösung fĂŒr die Welt wĂ€re. Ich nehme dich mit auf eine Bewusstseinsreise. Ich zeige dir den Menschen”, sagte die Sphinx aufgebracht. Langsam verschwamm die Welt und alles wurde schwarz um Ădipus herum.
© Pascal Hoffmann 2022-08-28