Josie und der Orden der Sieben. Kapitel 1: Melkvin

MaryH

by MaryH

Story

Ich sah Melkvin zum ersten Mal am Bahnsteig am NĂŒrnberger Hauptbahnhof. Er stand im kleinen, mit gelber Linie abgetrennten Raucherbereich auf Gleis 9 und telefonierte in lautem Englisch: „I’m goin‘ to get it dun, Howie, I know it’s about time, stop goin‘ on me tits now. Fuck’s sake”, sagte er, bevor er schnaubend auflegte und verstohlen zu mir rĂŒbersah. FĂŒr einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, aber er schaute so ertappt drein, dass ich schnell wieder meine Schuhe begutachtete. Als ich wieder nach oben sah, war er verschwunden. Es dauerte sechs Tage, bis sich unsere Wege ein zweites Mal kreuzten.

„Everything I‘m about to tell you will make your beliefs and your perception of the world go tits up, Josie”, hatte er mir ins Ohr genuschelt, als ich an jenem schicksalhaften Tag verkatert vor meinem Lieblingsdöner in der Johannisstraße auf meinen DĂŒrĂŒm gewartet hatte. Ich war erschrocken herumgefahren und hatte verwirrt in das das mir vage bekannt vorkommende runde Gesicht gestarrt, das wie aus dem Nichts plötzlich direkt neben mir aufgetaucht war. “But you do need to know”, war er fortgefahren, “now let’s have a pint and a cig and stop looking at me like I’m a talkin’ pigeon.”

So passiv wie man nur in diesem Zustand völliger Kater-GleichgĂŒltigkeit sein kann, hatte ich mich von dem bizarren MĂ€nnchen ein paar Meter weiter in eine schĂ€bige kleine Pilsbar ziehen lassen, an der draußen ein alter „Raucherclub“-Sticker klebte. Ich hatte mich noch milde neugierig gefragt, woher mir der kleine glatzköpfige EnglĂ€nder mit dem langen schwarzen Filzmantel so bekannt vorkam. Und noch bevor ich hatte fragen können, wer er sei und woher er ĂŒberhaupt meinen Namen wisse, hatte er mich in eine Ecke gesetzt, zwei Halbe auf den Tisch gestellt und nach einem seufzenden “Now, where do I start
!” begonnen, mir seine unglaubliche Geschichte zu erzĂ€hlen.

Fast fĂŒnf Stunden spĂ€ter waren wir gemeinsam aus der Pilsbar gestolpert – ich völlig neben mir, mit klopfendem Herz, tausend Gedanken die angestrengt durch mein geschocktes Gehirn wateten wie durch einen Sumpf, und mit noch immer offen hĂ€ngendem Mund.

Melkvin hatte sich unbekĂŒmmert zu mir umgewendet und gesagt: „Now. Get on with quitting your job an’ saying bye to your
well, peers, or whatever, an‘ all that. And I see you back again here, the day after tomorrow. Same time. I know you have a thousand more questions. But how ‘bout you digest all that I’ve told you so far and then we’ll talk about the true sticky bollocks next time. OK? I’ve been here with you way too long any’ow, I’m a busy man. I have to see a cat about a dog.” Dann hatte er mir unwirsch auf die Schulter geklopft, seine wohl hundertste Zigarette dieses Tages angezĂŒndet und war schnellen Schrittes um die Ecke verschwunden. Ich hatte ihm noch lange nachdem sein schwarzer Mantel, der ihn wie einen Fußball-Hooligan aussehen ließ, um die Ecke geflattert war, nachgesehen und war dann mit tauben HĂ€nden und FĂŒĂŸen nachhause gewankt.

© MaryH 2022-03-21

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