Judasengel

Horst-Tim_1965 Riethausen

by Horst-Tim_1965 Riethausen

Story
Frankfurt 1950 – 1951


Der Name der kleinen Straße »Luginsland« wirkte wie Hohn. Fünf Jahre nach Kriegsende sah Frankfurt nicht mehr idyllisch aus. Nur wenige Häuser waren intakt geblieben, zwängten sich zwischen beschädigte Gebäude, Ruinen, Trümmer und trostlose, vom Schutt gereinigte, Flächen. Nicht nur die Stadt lag in Scherben, auch das Leben der Menschen. Einer von ihnen war Hasso Kronstein. Er stand vor dem Eingang der Gaststätte am Ende der Straße. Die Tür stand offen und ließ die Kühle des Abends eindringen – und musikalische Klänge hinaus. Der mittelgroße Mann lauschte der Musik. Haar und Vollbart waren so dunkelgrau wie der abgetragene Anzug. Schritte näherten sich von der Goethestraße her. Hasso Kronstein sah auf und erblickte ein ungleiches Paar, das langsam näher kam. Ein braunhaariger, vollbärtiger Bär von einem Mann wurde begleitet von einem schlanken, rothaarigen Jungen. Hasso begrüßte sie vor der offenen Tür. Zusammen beobachteten sie die Szenerie im Inneren der Gaststätte. Zum Klang von Klavier, Geige und Klarinette probte ein älterer Sänger mit Stirnglatze und grauem Haar ein Lied. Er stand gebückt, aber seine Stimme schien nichts von ihrer Kraft eingebüßt zu haben. Mit voller Inbrunst schmetterte er den Gesang, als befänden sich im Raum mehr als nur vielleicht das Dutzend Zuhörer. Sänger und Musiker standen auf einem Podest am Ende des mittelgroßen Raumes, der mit Girlanden und Blumen prächtig dekoriert war. Zwischen allem stand eine große Frau, die es mit Hasso Kronsteins muskulösem Begleiter aufnehmen konnte. Mit ihrer üppigen Gestalt und den auffälligen Rundungen war sie die geballte Weiblichkeit in Person. Sie trug ein weites, leuchtend rotes Gewand, das gut zu ihren rotbraunen Haaren passte. Zufrieden sah sie zu, wie ein Angestellter ein Schild in den Kachelofen schob. Ihre Stimme klang hell und mächtig wie eine Fanfare. »War längst überfällig. Der Felsenkeller feiert seine Wiederauferstehung! Freya war gestern!« Ein Räuspern in einer Gesangspause lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstür. Mit einem lauten Stöhnen trat der Muskelprotz ein und kam auf sie zu. »Betty! Ist das nicht übertrieben? Zwischen dem Grünzeug muss man wirklich auf die Suche gehen!« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist genau richtig, Emmerich! Jeder soll sehen, dass der Felsenkeller zu seiner alten Pracht zurückkehrt. Außerdem – nicht nur Ihr müsst dann suchen! Die Pforten sind wieder geöffnet, aber man weiß nie, wen man damit einlässt! Du verstehst?« »Du meinst, …?« Sie nickte wissend. »Ich rechne fest damit. Ich war überrascht, wie leicht ich die Tanzerlaubnis bekommen habe.« Unverständnis stand in den Augen des rothaarigen Jungen. »Das ist doch alles vorbei. Schau doch, was im Taunus-Thor los ist. Lediglich die MP machen da ihre Patrouille – gelegentlich. Die schauen einfach nur und gehen wieder. Da passiert nie etwas!« Die Wirtin sah den Jungen mahnend an. »Es ist mir gleich, was im Taunus-Thor passiert. Ich bleibe sauber! Haben wir uns verstanden? Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein. Nach den geschlagenen Wunden braucht es lange, bis man wieder vertrauen kann. Und manche Schrammen werden wohl nie wieder heilen.« Sie sah zu Hasso hinüber, der am Türrahmen lehnte und gedankenversunken den Sänger betrachtete. Emmerich stöhnte auf. »Volker fehlt uns allen und wird unvergessen bleiben. Aber er ist eben nicht mehr da. Sich an die Vergangenheit zu klammern, macht ihn nicht wieder lebendig.”

© Horst-Tim_1965 Riethausen 2023-12-27

Genres
Suspense & Horror
Moods
Dunkel
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