Juli

Verba Volant

by Verba Volant

Story

Er hat sie nicht geschlagen, zumindest nicht mit Absicht.

Das redet er sich seit drei Stunden und vier Tagen ein.

Sie sitzt neben ihm im Flugzeug, gleich einer Statue. Aufrecht erweckt sie den Eindruck, sie wäre unberührbar. Auf ihrer Nase sitzt eine Sonnenbrille, in ihren Händen liegt das Tablet, in ihren Ohren stecken die Kopfhörer. Ihre Augen verfolgen die Serie, die das Gerät wiedergibt. Er beobachtet sie kurz von der Seite, wie sie dort zwischen ihm und einem Unbekannten sitzt, ehe er sich wieder zum Fenster wendet. Sie sind jetzt über den Wolken und er kommt sich vor, als sähe er von oben herab auf eine Schneelandschaft.

Die Situation zwischen ihnen ist ziemlich seltsam, findet er. Seit dem Vorfall haben sie kaum miteinander gesprochen und sie hat sich in die steinerne Person verwandelt, die auch jetzt neben ihm sitzt. Er hat große Sorge gehabt, dass der Urlaub nicht mehr stattfinden würde, weil er das Hotel zu dem Zeitpunkt nicht mehr stornieren konnte und das Geld bereits bezahlt war. Seit sie jedoch ihre Anreise angetreten sind, wünscht er sich, der Urlaub wäre ausgefallen. Die Stimmung ist schlecht, sein Gewissen plagt ihn und dazu macht sich die nagende Angst in ihm breit, was wohl nach ihrer Reise geschehen wird.

Er liebt sie sehr. Sie ist das Kostbarste in seinem Leben. Er kann und will noch immer nicht begreifen, wieso er so wütend geworden ist. Eigentlich hatten sie sich nur über eine Kleinigkeit gestritten, es ging um das Badezimmer und ihre unterschiedlichen Auffassungen von Ordnung. Irgendwie hatte es sich hochgeschaukelt. Und dann hatte sie laut gesagt: „Du bist wie dein Vater“ und plötzlich hatte es in ihm ausgesetzt, und er dachte, gut, dann bin ich eben so. Und dann hatte er ihr eine Ohrfeige verpasst, es hatte geknallt, sie beide waren zusammengezuckt. Wie in Zeitlupe hob sie ihre Hand und legte sie sich auf die Wange, während er regungslos vor ihr stand. Dann drehte sie sich um, ging aus dem Zimmer, und es wurde, wie es ist.

Es tut ihm leid, aber er kann sich nicht entschuldigen. Etwas in ihm ist eingeklemmt. Seit er mit achtzehn Jahren ausgezogen ist, hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Niemand kennt ihn und seine Geschichte, nur die Frau neben ihm. Es stimmt, dass er Probleme hat, sich anderen gegenüber zu öffnen, und es stimmt auch, dass er niemals so sein wollte wie sein Vater, der nicht nur seine Mutter, sondern auch ihn geschlagen hat. Bereits als Zwölfjähriger hat er sich selbst geschworen: Wenn ich je eine Frau haben werde, werde ich sie lieben, und ich werde ihr niemals Schmerzen zufügen, niemals.

Jetzt hat er eine Frau, und sie sitzt wie versteinert neben ihm. Er berührt sie leicht an der Schulter. Sie zuckt nicht zusammen, sieht ihn fragend an, entfernt einen der Kopfhörer aus ihrem Ohr.

Er weiß nicht, was er sagen soll. Kein Wort der Welt kann das ausdrücken, was er fühlt. Also sieht er sie nur an.

Sie blickt zurück.

Er muss seine Augen abwenden.

© Verba Volant 2022-08-16