Julia hatte ihren Handspiegel in der Hand und schminkte sich im Tageslicht, welches durch die Balkontür in das Wohnzimmer fiel. Ihre Hände zitterten. Sie musste sich enorm konzentrieren, damit alles gewohnt akkurat wurde. Noch konnte sie von ihrem Vorhaben ablassen. Ihr Handy lag vor ihr auf dem Couchtisch. Sie musste ihren Eltern nicht schreiben und sie einladen vorbeizukommen. Sie hatte es schon zwei Mal vorgehabt und dann nicht getan. Ein weiteres Mal wäre auch nicht so wild. Auch, wenn sie sich nicht länger verstecken wollte. Jetzt wo es kurz bevorstand, war sie wieder unsicher. Sie sog den Duft des Zerstäubers ein, den sie angeschaltet hatte. Orangenhain hieß das Duftöl, welches sie hineingetan hatte. Normalerweise beruhigte dieser Duft sie. Heute wollte es allerdings nicht damit klappen.
Sie hatte ihr cremefarbenes Sommerkleid angezogen. Zwei dezente Goldringe und die goldene Kette mit dem kleinen Herzanhänger angelegt. Die Kette war ein Geschenk ihres Freundes Jan. Er würde auf jeden Fall in einer Stunde kommen. Seit einem halben Jahr waren sie zusammen. Ihre Eltern kannten und mochten ihn. Julia legte den Augenbrauenstift zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. Ihr gefiel das Ergebnis. Sie schminkte sich erst seit einem Jahr. Zunächst hatte sie es nur zu Hause getan, bis sie sich hübsch genug fand, um sich so ins Nachtleben zu stürzen. Dort hatte sie auch Jan in einer Bar kennengelernt. Mit ihm hatte sie ein paar Wochen später auch ihr erstes Kleid gekauft. So zurechtgemacht hatte sie sich aber bisher nur an den Wochenenden, wenn sie zusammen ausgingen. Sie wollte jetzt auch im Alltag zu sich stehen.
Sie ging ins Schlafzimmer und kramte ihre pastellfarbenen Ballerina-Schuhe heraus. Sie trug normalerweise keine Schuhe in der Wohnung, aber heute wollte sie sich in ihrem kompletten Outfit präsentieren. Sie schlüpfte hinein.
Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und nahm ihr Handy vom Tisch. Sie tippte die Nachricht an ihre Eltern. Sie hatten stets ein sehr gutes Verhältnis. Als sie ihnen erzählt hatte, dass sie homosexuell ist, war es überhaupt kein Thema. Sie war sich eigentlich sicher, dass es auch dieses Mal ein liebevolles Treffen wird. Und doch zögerte sie, als ihr Daumen über dem Pfeil war, der die Nachricht absenden würde. Sie dachte daran, dass sie im Handy ihrer Eltern noch unter immer unter Julian eingespeichert war. Noch konnte sie davon ablassen, kam es ihr wieder in den Sinn.
Bevor die Ängste noch größer werden konnten, drückte sie auf den Pfeil. Julia starrte auf die Nachricht in der Familiengruppe und den kleinen Haken, der sich innerhalb von nur einer Minute in zwei blaue Haken verwandelte. Das Zeichen, dass die Nachricht von beiden gelesen worden war.
Eine Stunde später klingelte es. Julia drückte Jan an sich. Dann öffnete sie stolz die Tür.
© Konstantin Weiland 2022-08-31