Kann Chemie Sünde sein?

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by lavoce

Story

Erinnerst du dich? Wie alles begann? Mit dir, mit mir, mit uns?

Du warst meine Angestellte, ich dein Boss. Ein eingeschworenes Team. Wir verstanden uns blind. Trotz oder wegen der Blicke? Zärtliche, wärmende, Körper und Seele streichelnde Blicke. Wärme, die sich langsam in Hitze verwandelte. Bald brannten wir lichterloh.

Die Leidenschaft setzte uns in Flammen. Flammen, die nicht gelöscht werden wollten. Sich ausbreiteten. Uns mit Haut und Haaren verschlangen. Niemand konnte sie stoppen. Wir nicht. Unsere Männer nicht. Unsere Kinder nicht. Alle hilflose Opfer unserer Begierde. Wir versündigten uns.

Sünde, was für ein geschwollenes Wort. Ausgespien von überheblichen Möchtegerngläubigen, die sich in ihrer Scheinheiligkeit suhlen. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Na eben. Und überhaupt.

Kann denn Chemie Sünde sein? Und Physik? Diese unbändige Anziehungskraft zwischen zwei Menschen.

Wir hielten es lange geheim. Es. Von dem wir nicht genau wussten, was es war. Bis wir es nicht mehr leugnen konnten. Wem machten wir eigentlich was vor?

Wir wollten niemanden verletzen. Indem wir es nicht zuließen, verletzten wir die, die wir am meisten liebten. Ich dich. Du mich. Wir uns.

Unser Outing war verheerend und befreiend zugleich. Es folgten die schlimmsten und schönsten Wochen meines Lebens. Das Schräge an dem Ganzen? Nicht unsere Familien waren das Problem. Die fanden sich langsam mit der neuen Situation zurecht. Es waren die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Hinterfotzigkeiten, Beleidigungen und Herabwürdigungen, die uns beinahe mit hinab gesogen hätten in ihren trostlosen Schlund.

Die immer wieder auftauchende Frage: „Ist es das wert?“ All die Beschimpfungen, intoleranten, herablassenden, homophoben Bemerkungen, die teilweise sogar in körperliche Aggressionen ausarteten?

Wie viel Anti-Empathie verträgt eine Menschenseele? Wie hält man das aus? Indem man sich über die Meinungen anderer hinwegsetzt? Lebt? Einfach liebt?

Nun sitzen wir uns gegenüber. Nach einem Streit über Nichtigkeiten. Aus vor Wut funkelnden Augen starren wir uns an. Doch plötzlich wandelt sich dein Blick. Zärtlich, wärmend streichelt er über meinen Körper, lässt mein Herz lächeln. Schüchtern grinse ich dich an. Du strahlst zurück. Nimmst mich in den Arm. Die Welt steht für einen Moment still. Dann beginnt sie sich wieder zu drehen. Langsam. Im Takt. In unserem Takt.

Und ich weiß: Alles wird gut.

© lavoce 2022-06-20

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