Es befanden sich zwei Frauen und vier Männer im Fahrstuhl, als das Licht ausging. Die Passagiere waren eine Frau mit einer Designerhandtasche, eine Frau mit einem Zopf, ein Mann mit einem Bart, ein Mann mit einer Brille, ein Mann mit einem karierten Hemd und ein Mann mit einem Siegelring. Der Fahrstuhl kam plötzlich in absoluter Dunkelheit zwischen den Geschossen zum Stehen. Hätten sie Licht gehabt, hätten die Passagiere das Folgende sehen können: Der Mann mit dem Siegelring stand mit ausgestreckten Armen wie versteinert vor Schreck. Die Dame mit der Designerhandtasche zog etwas aus ihrer Tasche. Der Mann mit dem Bart hustete. Die Frau mit dem Zopf trat dem Mann mit dem karierten Hemd auf die Zehen. Der Mann mit der Brille schloss die Augen. Immer noch Stille. Dann, als der erste Schreckmoment vorbei war, kam wieder Leben in die Gesellschaft.
„Was ist passiert?“, fragte eine Stimme überrascht.
„Geht es allen gut? Ist jemand verletzt?“ fragte eine andere Stimme besorgt.
„Was soll das? Lasst uns raus hier!“ rief eine weitere Stimme nervös.
„Es ist so fürchterlich eng hier“, murmelte jemand.
„Was können wir tun?“, fragte jemand anderer.
Der Übeltäter sagte nichts.
Das Licht flackerte ein paar Mal auf, bevor es endlich wieder anging und der beklemmenden Dunkelheit ein Ende setzte. Die Passagiere blickten einander unsicher an. Niemand hatte sich zuvor die Zeit genommen die anderen Menschen in dem Fahrstuhl anzusehen, denn jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch jetzt waren sie Leidensgenossen, vereint durch eine gemeinsame Ausnahmesituation.
Der Mann mit dem Bart drängte sich zu den Druckknöpfen an der Seitenwand. „Wir sollten versuchen Hilfe zu holen.“ Er betätigte den SOS Knopf. Es ertönte ein Rauschen und wenig später eine verzerrte Stimme. „Was kann ich für Sie tun?“ Der Mann mit dem Bart blickte triumphierend zu den anderen. Der Mann mit dem Siegelring rief: „Wir stecken hier im Aufzug fest. Bitte helfen Sie uns!“ Wieder erklang ein Rauschen. Dann antwortete die Stimme: „Es sieht so aus als ob der Stoppknopf direkt im Aufzug gedrückt wurde. Drücken Sie nochmal. Dann sollte alles wieder laufen.“ Der Mann mit dem Siegelring drückte mit zittriger Hand auf den Knopf. Nichts geschah. Die Passagiere blickten sich ein weiteres Mal unsicher an. „Was soll das bedeuten, der Knopf wurde von innen gedrückt?“, fragte die Frau mit dem Zopf nervös. „Es funktioniert nicht!“, brüllte der Mann mit dem Siegelring in den Lautsprecher. Doch diesmal kam kein Rauschen als Antwort. Die Verbindung schien abgebrochen zu sein. Der Mann mit dem Siegelring begann auf die Knöpfe zu hämmern. „Hör doch auf, was soll das bringen?“, fragte der Mann mit der Brille. „Leute“, begann der Mann mit dem karierten Hemd, „seht mal da.“ Er deutete auf die geschlossene Aufzugtür. Dort hing ein Zettel, bedruckt mit blutroten Buchstaben.
© Yvonne Schauer 2022-08-31