Es war schon fast Mittag, als ich mich endlich aus dem Bett schälte. Mit einem Lächeln betrachtete ich Marc, der noch immer selig neben mir schnarchte. Es war spät gewesen, als wir uns gestern nach seiner Premiere und meinem Shooting endlich mal wieder gesehen hatten. Mit einer Tasse Espresso machte ich es mir auf der Chaiselongue vor Marcs Erkerfenster gemütlich. Die letzten Wochen steckten uns beiden in den Knochen. Und es gab keine Aussicht auf Besserung. Morgen würde Marc zu seinem nächsten Dreh verschwinden. Auf mich wartete die Fashion Week. Manchmal wünschte ich mir nur ein paar ruhige Tage. Wieder essen zu können, was ich wollte. Nicht immer perfekt aussehen zu müssen. Gleichzeitig war mir klar, dass ich das nicht lange durchhalten würde. Dass ein »normales« Leben mir viel zu langweilig wäre. Schließlich hatte ich es nach dem Abitur nicht erwarten können, Heidelberg zu verlassen und in Berlin endlich frei zu sein. Abenteuer zu erleben. Spannende Leute kennenzulernen. Vor der Kamera zu stehen. Dafür nahm ich den Stress, das Hungern und die ständige Unsicherheit, wie es weitergehen würde, in Kauf. Am Ende hatte jeder Job seinen Preis. Ich warf einen Blick auf das Bild von Heidelberg, das mein Vater für mich gemalt hatte, als ich ausgezogen war. Ich spürte ein Ziehen im Magen. Ihn vermisste ich doch.
Irgendwo im Kleiderhaufen auf dem Boden klingelte mein Handy. Als ich den Namen meiner Mutter sah, verdrehte ich die Augen und schaltete es stumm. Auf ihr Gejammer konnte ich heute wirklich verzichten. Seit ich denken konnte, tat sie nichts anderes, als ihr Unglück an anderen Leuten auszulassen. Und noch viel schlimmer: Alle außer ihr waren schuld daran. Besonders mein Vater, auch wenn ich nie genau verstanden hatte, warum. Selbst meine sonst so perfekte Schwester konnte es ihr selten recht machen. Das Handy vibrierte. Ruf mich sofort an. Es ist ein Notfall.
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das nun wieder? War das ein neuer Trick, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil ich mich zu selten zu Hause meldete? Ich schob das Handy von mir. Aber eine nagende Stimme in meinem Hinterkopf sagte mir, dass ich doch besser nachfragen sollte. Um Marc nicht zu wecken, tappte ich in die noch kühle Küche, bevor ich meine Mutter zurückrief. »Ich wusste, dass du mich wegdrücken würdest«, fuhr sie mich an. Keine Begrüßung. Nur Vorwürfe. Was hatte ich erwartet? »Ich bin gerade erst aufgestanden. Außerdem wollte ich Marc nicht wecken.«
»Das sieht euch ähnlich. Anständige Leute würden nicht so lange faul im Bett liegen.«
Ich biss die Zähne zusammen. Der Tag war zu kostbar. Ich wollte ihn nicht mit einem Streit beginnen. »Du wolltest aber nicht mit mir sprechen, um mich zu belehren, oder? Warum rufst du an?«
»Ach, dürfen Mütter ihre Kinder jetzt nicht mehr anrufen?« Ich schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck. »Sagst du mir jetzt, was los ist?«
»Du musst sofort nach Hause kommen.«
»Was gibt es denn so Wichtiges? Ich ertrinke hier in Arbeit.«
»Arbeit«, brummte sie und ich hätte schwören können zu hören, wie sie die Augen verdrehte.
Ich machte mir nicht die Mühe, ihr die Fashion Week zu erklären oder die Tatsache, dass die Shootings für Herbst- und Winterkollektionen nun einmal im Sommer stattfanden. »Es geht um deinen Vater. Er hatte einen Schlaganfall.«
© Ronja K. Traschütz 2023-08-25