Kapitel 11

Sarah Steger

by Sarah Steger

Story

Ich drückte den Auslöser. Klick. Meine Kamera schoss ein Foto von der Landschaft, die vor uns lag. Eine leichte Brise spielte mit meinem Haar. Ja, wir. Nicht nur ich. Bisher war ich immer nur alleine oder mit meiner Familie unterwegs gewesen, wenn ich zum Fotografieren ging. Doch seit kurzer Zeit hatten einige Veränderungen etwas mehr Farbe in mein Leben gebracht. Ich verbrachte auch außerhalb der Schule viel Zeit zusammen mit Liam und Vivienne, erkundete gemeinsam mit ihnen die Umgebung und das Leben und hatte so viel Freude daran, wie schon lange nicht mehr. Man könnte meinen, dass mir bewusst war, dass ich Vivienne und Liam irgendwann von meiner Vergangenheit erzählen musste… oder eben von der Vergangenheit, die ich nicht mehr hatte. Doch um ehrlich zu sein hatte ich die ganze Zeit über geglaubt, dass es nicht notwendig werden würde, ihnen davon zu erzählen. Nein, auch das war falsch. Eigentlich hatte ich mir schon oft vorgestellt, wie es sein könnte, wenn ich es wenigstens einem von beiden sagen könnte. Vermutlich hätte es mir gutgetan, mir alles, was mich belastete von der Seele zu reden. Doch getan hatte ich es bis zu diesem Zeitpunkt nie. Ich versuchte mir selbst einzureden, dass ich nie den richtigen Zeitpunkt dazu fand oder ich nicht wusste, wie ich es ihnen erzählen sollte. Aber im Grunde waren das alles wieder nur Ausreden, mit denen ich versuchte, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Es stimmte schon, ich würde vielleicht nicht den richtigen Zeitpunkt finden und auch nicht die richtigen Worte, doch in Wahrheit hatte mir einfach immer der Mut gefehlt. Ich hatte mir so oft gewünscht, ich könnte es einem von ihnen sagen, mein Gewissen reinwaschen und meine Seele erleichtern. Aber wenn die Angst zu groß wird, kann man seinem Körper oft so viele Befehle zum Handeln erteilen, wie man will, der Körper ist in einem Schockzustand. Das hat nichts mit der Stärke eines Menschen zu tun. Der Körper reagiert in Situationen von Angst einfach intuitiv. Oft kann das nützlich sein, da es den Menschen unterbewusst dazu führt, sich von der Gefahr, die ihm Angst macht, fortzubewegen. In meinem Fall allerdings war sie oft hinderlich. Ich verpasste durch meine Angst so viele Chancen und konnte doch nichts dagegen tun. Denn meine Angst bestand nicht darin, dass Vivienne oder Liam sich über mich und meine Vergangenheit lustig machen würden, so wie die Leute aus meiner alten Schule. Ich hatte Angst davor, von ihnen mit anderen Augen gesehen zu werden. Ich hatte Angst davor, dass sie sich von mir abwenden würden, sei es aus Wut darüber, dass ich sie belogen hatte oder weil ich ihnen mit dieser Vergangenheit doch zu seltsam war.

Ich, Kaia Rose O‘Riley, hatte Angst davor, wieder alleine zu sein und verurteilt zu werden. Aus diesem Grund war ich auch wie erstarrt, als Liams Schwester eines Abends bei Vivienne, Liam und mir am Lagerfeuer saß. Sie schaute zuerst betreten in den Himmel und dann durch das Feuer zu mir, als sie anfing zu sprechen.

„Auf meiner Schule sind ein paar Mädchen aus der Theater-AG im Abschlussjahrgang. Heute erzählten sie mir von einer ehemaligen Mitschülerin von ihnen. Diese hatte zuerst ein halbes Jahr lang gefehlt, niemand wusste, was mit ihr passiert war. Doch das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass dieses Mädchen, als es wiederkam, sich an nichts mehr erinnern konnte.“ Das Feuer knackte, Funken stoben auf. Die Uhr tickte, die Zeit verging, die Erde drehte sich weiter. Doch meine Welt blieb stehen.

© Sarah Steger 2024-09-05

Genres
Novels & Stories