Ich wachte am nächsten Tag erst recht spät auf. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zu meinem Treffen mit Flo, also machte ich mich schnell auf in die Küche, um vorher noch etwas zu essen. Pete war dort diesmal nicht allein und es roch verführerisch nach den verschiedensten Gerichten. Er winkte mich zu sich und machte mir ein Spiegelei, während ich mir eine Scheibe Brot schmierte. „Hat deine Familie schon immer in Anderdorf gelebt?”, fragte ich und er antwortete: „Tatsächlich ja. Und wir hatten schon immer ein Talent für das Kochen. Hier gibt es nicht so viel Veränderung. Die meisten Leute wohnen hier seit der Stadtgründung. Es gibt nur ein paar Familien, die zugezogen sind.“ Er sah mich neugierig an „du wirkst so nachdenklich. Was beschäftigt dich?“, fragte er dann. „Seit du mir von dem Massaker damals erzählt hast, lässt es mich nicht mehr los. Vor allem, dass der Mörder nicht gefasst wurde. Ich würde den Fall gerne aufklären”, erklärte ich mit gedämpfter Stimme, damit nicht jeder in der Küche meine Worte mitbekam.
„Das ist doch schon verjährt. Der Mörder muss doch heute schon längst tot sein. Da gibt es nichts mehr aufzuklären“, meinte Pete. „Und was, wenn nicht?“, fragte ich dann. Er lachte. „Dann hat sich derjenige bis jetzt nicht wieder blicken lassen und auch keine weiteren Morde begangen”, überlegte er und ich ergänzte: „Und wenn wir es nur nicht mitbekommen haben?“ Er musterte mich mit einem mitleidigen Blick und sagte vorsichtig: „Das hier ist eine kleine Stadt. Jeder kennt jeden. Glaube mir, dass wir es mitbekommen hätten. Du steigerst dich da in etwas hinein. Lass die Sache ruhen.” Mit diesem Schlusssatz ließ er das Spiegelei auf meinen Teller gleiten und ging zu einem seiner Kollegen. Damit war dieses Gespräch wohl beendet. Dennoch, trotz seiner Worte, ich konnte, nein, ich wollte diese Sache nicht ruhen lassen.
Als ich um zwölf Uhr in die Eingangshalle kam, wartete Flo schon auf mich und winkte mit ein paar Zetteln in der Hand. „War ganz einfach! Ich habe die Listen kopiert und die Originale sind wieder an ihrem Platz!“, rief er und wir verkrümelten uns in die Bibliothek, um die Listen ungestört durchzugehen. „Was ist das?”, fragte ich und zeigte auf einen Kaffeefleck auf einem der Zettel, der einen der Namen vollkommen unkenntlich gemacht hatte. „Die trinken den Kaffee da wie Wasser. Vielleicht ist jemandem mal ein Unglück passiert. Würde mich ehrlich gesagt nicht wundern”, überlegte Flo. Ich seufzte und sah mir die anderen Namen an. Wir hatten Glück, dass Datenschutz damals nicht wirklich großgeschrieben wurde. In dieser Liste standen ziemlich viele persönliche Informationen. Am Ende hatten wir tatsächlich ein paar Namen gesammelt. Hauptsächlich Putzkräfte und Angestellte von damals, die nicht im Waisenhaus gewohnt hatten und deshalb Schlüssel zum Haus besaßen oder sich zumindest gut auskannten.
© Lisa Koscielniak 2021-06-19