by Carmen Diego
Unsere Schwärmereien lenkten uns vom wirklichen Durst ab, doch als wir vor der Kirche standen, weigerte sich Leo, einen weiteren Schritt ohne Wasser zu machen. Meine Mutter zappelte nervös, also schlug ich vor, mit meinem Cousin schnell ins Pfarrhaus gegenüber der Kirche zu gehen. Meine Familie nickte ergeben. ,,Die Messe beginnt in fünf Minuten, wenn ihr euch beeilt, seid ihr noch vor Beginn da”, sagte mein Vater mit Blick auf die Uhr. Seine Frau war schon in der Kirche verschwunden. ,,Martha, jetzt warte doch!”, rief er hilflos. Chloë verdrehte die Augen und navigierte Lorenz an den Schultern hinter meinem Vater her. ,,Okay, jetzt aber schnell”, murmelte ich und schubste Leo in Richtung Pfarrhaus. Drinnen steuerte ich die einzige Tür an, von der ich wusste, dass sie nie abgeschlossen war. Ein Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten. Verdammt, warum war sie genau heute verschlossen? Ich sah mich um. Neben der Eingangstür stand eine große, geöffnete Orangensaftflasche. Leo…”, begann ich. ,,Geht auch Saft?” Mein kleiner Cousin lächelte erleichtert, packte den Behälter und begann gierig zu trinken. Noch zwei Minuten. Zufrieden gab er mir die Flasche weiter und rülpste. Auch ich trank einen Zug und verschluckte mich vor Schreck. ,,Shit, Leo kannst du nicht aufpassen?”, hustete ich. ,,Wieso? Was kann ich dafür, dass du nicht einmal trinken kannst? Bist du nicht 19?”, antwortete er beleidigt. Ich zeigte auf sein kariertes Hemd, auf dem sich gemächlich ein knalloranger Fleck ausbreitete. ,,Oh nein, Mama bringt mich um! Das sieht doch aus, als hätten wir keine Waschmaschine zu Hause!”, quietschte er. Draußen gongte es zum Anfang der Messe. Eilig drängte ich ihn in die Damentoilette. ,,Oh Mann, warum haben wir nicht hier getrunken?”,stöhnte ich und begann, Taschentücher aus einer Box zu zupfen. ,,Ähm, ich glaub das klappt nicht”, traute sich Leo nach vielem Rubbeln zu äußern. Genervt blickte ich ihn an und dachte fieberhaft nach. Kurzerhand zog ich mir meine Bluse unter dem Kleid aus und band es ihm so um, dass der Fleck verdeckt wurde. ,,Hm, naja, wenn es hilft”, brummelte Leo. ,,Bitte, lieber Leo, jetzt siehst du wieder sauber und fein aus, während ich jetzt schulterfrei in der Kirche sitzen muss”, zischte ich. Ohne ein weiteres Wort gingen wir in die Messe. Mittlerweile waren wir zehn Minuten verspätet. Rasch setzten wir uns zu unserer Familie. Chloë warf mir einen missbilligenden Blick zu, also stieg ich ihr beim Hinsetzen absichtlich auf den Fuß. ,,.…Vielmehr steht geschrieben: die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen”, tönte es von vorne. Meine Schwester schaute mich böse an und schnaubte entrüstet. Frau Meinlich drehte sich zu ihr um und flüsterte:,,Ein bisschen Respekt bitte!” Ein triumphierendes Lächeln stahl sich in mein Gesicht. Mittlerweile war unsere Junglektorin Charlotte Zimmermann zum Ende der Lesung gekommen. Mit strahlendem Lächeln sprach sie den abschließenden Satz:„Wort des lebendigen Gottes”. „Dank sei Gott dem Herrn”, nuschelten wir. Charlotte ließ sich auf der ersten Bank nieder und Priester Jakob übernahm das Wort. Obwohl er eine klare Stimme hatte und Charlotte nur flüsterte, bekamen alle mit, was sie ihren Eltern mitteilte :,, Das war soo schlecht, ich schäme mich ja so, ich glaube, ich habe noch nie so schlecht vorgelesen!” Genervt blickten wir uns an. Unsere Junglektorin redete perfekt! Langsam nahm ihr niemand ihr Selbstmitleid ab.
© Carmen Diego 2025-08-28