Kapitel 6

Emily Nettelbeck

by Emily Nettelbeck

Story

Winter starrte die Feder auf ihrem Esstisch an, ihre Augen unfähig, sich von dem braunen, samtigen Objekt zu lösen. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme, und plötzlich schoss eine Erinnerung in ihr Bewusstsein, die sie so lange, so tief vergraben hatte, dass sie geglaubt hatte, sie nie wiederfinden zu können. Die Feder vor ihr war wie ein Schlüssel, der das Schloss zu einer längst verschlossenen Tür in ihrer Erinnerung aufbrach.

Sie sah sich selbst, klein und verwundbar, in ihrem Kinderzimmer. Sie lag im Bett, die Augen fest geschlossen, die Decke bis zum Kinn gezogen. Die Nacht war still und eine unsichtbare Schwere lag in der Luft. Ihr Stiefvater war gerade aus ihrem Zimmer gegangen, die Tür hatte sich leise hinter ihm geschlossen. Winter hatte keinen Laut von sich gegeben, nicht geweint, nicht gezuckt. Sie hatte reglos dagelegen, als hätte sie aufgehört zu atmen, in der Hoffnung, unsichtbar zu werden.

Doch dann hörte sie ein Geräusch. Ein leises Tappen, ein Rascheln, das von oben kam, aus dem Dachboden über ihrem Zimmer. Neugier und eine unbestimmte Angst kämpften in ihr, als sie die Augen öffnete und sich aus dem Bett schwang. Die Kälte des Holzbodens drang durch ihre nackten Füße, als sie zur Tür schlich und sie leise öffnete. Schritt für Schritt bewegte sie sich zum Ende des Flurs, wo die schmale, knarrende Treppe zum Dachboden begann.  

Als sie den Dachboden betrat, wurde sie von Dunkelheit empfangen, nur ein schmaler Lichtstrahl des Mondes fiel durch das kleine Fenster und zeichnete einen hellen Fleck auf den Boden. Und dort, in der Ecke, stand ein Junge. Seine Gestalt war vage, fast wie ein Schatten, seine Umrisse verschmolzen mit der Dunkelheit des Raums. Er war nur ein paar Jahre älter als sie, doch seine Augen schienen alt, voller Geheimnisse, die sie nicht entschlüsseln konnte.

Er sagte nichts, sondern hob langsam den Arm und zeigte mit einem dünnen Zeigefinger auf eine alte Holztruhe, die in der anderen Ecke des Raums stand. “Ich weiß, was er macht,” flüsterte der Junge, seine Stimme war rau, als ob sie lange nicht benutzt worden wäre. „Ich kann dir helfen, wenn wir Freunde werden.“ 

Winter zögerte, doch etwas an dem Jungen, an der Art, wie er dort stand, wie ein Schatten, das Geräusch seiner Stimme, zog sie zu ihm. Sie machte einen Schritt auf die Truhe zu, dann noch einen, bis sie schließlich vor ihr stand. Mit zitternden Händen hob sie den Deckel, und dort, auf einem Haufen alter Decken und Kissen, lag eine Feder. 

© Emily Nettelbeck 2024-08-26

Genres
Suspense & Horror
Moods
Dunkel