Ich saß auf einer Bank im Central Park. Mein Gehirn wollte noch immer nicht funktionieren, weshalb ich seit einer geschlagenen Stunde auf meine nackten Füße starrte. Ebenso wie dutzende Spaziergänger, die an mir vorbeischlenderten. Es war nicht normal ohne Schuhe durch New York zu laufen, weder hier noch in meinem New York. Die Menschen beäugten mich misstrauisch, aber niemand sprach mich an. Auch das hatten sie mit meinen New Yorkern gemeinsam: Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Kram.
Erst, als ein Mann an mir vorbei stolperte, der ebenfalls keine Schuhe trug, sprang ich auf. Er hatte eine zerrissene Hose aus gezüchtetem Falschleder an, sein Hemd war bestenfalls durchsichtig. Er sah aus, als sei der durch die Hölle gegangen.
„Dung?“, ich streckte meine Hand nach ihm aus. Der Mann fuhr herum. Seine braunen Augen durchbohrten mich, bevor ein Leuchten des Erkennens in ihnen erstrahlte. Ohne weiter darüber nachzudenken, warf ich mich in seine Arme. Sein Oberkörper wurde von Schluchzern durchgeschüttelt, als er seine Arme fest um mich schlang. 171 Tage hatte ich mich nach diesem Gefühl gesehnt: Wieder im Arm gehalten zu werden von jemandem, den man liebte. Ich ließ mein Herz ein paar Sekunden das Gefühl der Vollkommenheit, bevor ich es ruinierte. „Was machst du hier?“, ich stieß Dung von mir. Er sah aus, wie ein geschlagener Hund. „Ich konnte die Stille nicht mehr ertragen.“, sagte er schließlich schulter zuckend. Ich kannte Dung besser als jeden anderen, weshalb mir klar war, dass diese Diskussion nirgendwo hinführen würde. Er hatte das getan, was er tun wollte. Punkt. Das war doch das eigentliche Problem: Er handelte, ohne nachzudenken.
„Ich will dich nicht hier haben.“ Meine Stimme klang viel entschlossener, als ich mich fühlte, denn mein Herz wollte ihn hier haben. Genau an meiner Seite. Dungs Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen: „Ach ja?“ Ich nickte so überzeugend, wie ich konnte. „Ich bin schließlich nicht umsonst gesprungen“, setzte ich nach. Sein Grinsen fiel in sich zusammen. Der Schmerz, der seine Augen nun überschattete war zu viel für mich. Ich drehte mich um und ließ ihn stehen.
Ich wurde verfolgt. Nicht von Dung, sondern von einem Mädchen. Sie sah aus, als sei sie circa siebzehn oder achtzehn Jahre alt, doch ihr Blick, war das, was mich beunruhigte. Blaue Augen, wie Eissplitter, die mich durchbohrten, als sei ich Glas. Als könnte sie sehen, dass ich nicht hierher gehörte. Das Mädchen an sich wirkte jedoch nicht wie eine Bedrohung: Hager, ein schmales Gesicht mit herzförmigen Lippen, langes Haselnussbraunes Haar, welches abstand, als hätte es noch nie eine Bürste gesehen. Ich hätte gedacht, es sei Zufall, dass sie mir folgte, wäre da nicht dieser Blick. Vielleicht war sie von der Regierung? Ich schüttelte den Kopf über meine eigene Paranoia.
„Du hättest ihn nicht fort schicken sollen“, sie taucht neben mir auf. Ich schweige, woraufhin sie schwer seufzt. „Er wird dich eh wieder finden.“
© Theresa Löchner 2022-08-30